Existentiell begründetes Denken

 

 

 

 

 

 

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Reaktionen zu:

Dirk Hübner: Existentielle Kritik kontra "negatorische" Kritik, Entgegnungen zu Robert Kurz' "radikaler Kritik"

 

30.03.2005

Herbert Hörz:

 

Sehr geehrter Herr Hübner.

ich habe mit Interesse ihre Argumentation zu den Auffassungen von R. Kurz gelesen und stimme in vielen kritischen Bemerkungen und Anmerkungen zu seinen Auffassungen mit Ihnen überein. Um einiges zu nennen:

-Eine Aufhebung des Subjekts kann es nicht geben, doch kann das Subjekt sich in soziale Strukturen einordnen, in ihnen untergehen oder sie gestalten, je nach Charakter und Umständen. Diese Beziehungen sind differenziert zu untersuchen.

-Sie betonen die Immanenz der Freiheit jedes Individuums. Ich hebe in meinen Arbeiten immer wieder das Verhältnis von Entscheidungsspielraum und Verantwortungsbereich hervor. In jeder noch so komplizierten Situation haben Menschen Entscheidungsspielräume, auch wenn sie sich in Grenzsituationen nur darauf beschränken, die Umstände zu akzeptieren oder zu negieren, Unausweichliches mit Würde anzunehmen oder würdelos zu sein.

-Ihre Überlegungen zur Liebe, zur Liebe in Demut usw. sind bedenkenswert. In meinem Buch "Selbstorganisation sozialer Systeme" (LIT-Verlag Münster 1993) habe ich ein Modell zum Freiheitsgewinn der Persönlichkeit vorgestellt, dass von dem Gegensatzpaar Liebe und Neid ausgeht, dabei auch die verzehrende Liebe und den anspornenden Neid beachtet.

-Bewusstheit ist sicher differenziert zu sehen. Darunter fallen auch Zeitgeist, herrschende Ideen und Erfahrungen, Gegenbewegungen zum mainstream und das persönliche Reflektieren der eigenen Erfahrungen. Alle diese Faktoren wirken auf das Individuum ein.

-Sie verweisen darauf, dass es keinen Endzustand der Entwicklung gibt und die Tragik in jeder Lebenslage auftreten kann. Das sehe ich auch so.

Ich wünsche Ihnen weiter Erfolg in ihrer Gedankenarbeit

Ihr

Herbert Hörz

 

Siehe auch Rezension von Herbert Hörz:

Rezension zu "Blutige Vernunft" in der Tageszeitung "Neues Deutschland" - Rezension zu "Blutige Vernunft" in der Tageszeitung "Neues Deutschland" 11.12.04/ http://www.exit-online.org/html/aktuelles.php

 

04.04.2005

Annette Schlemm:

 

Hallo,

vielen Dank für Ihren Hinweis.

Sie reagieren damit sicher auf meine "Kritik der abstrakten Subjektkritik".
Ich hatte damals die neueren Arbeiten von Kurz dazu gar nicht gekannt - aber
es war schon klar, wohin die Reise geht...
Ich kannte zwar den Namen Berdjaew, durch Sie habe ich nun mehr von ihm
gelernt. In vielen Punkten trifft er sich mit vielen, die ich kenne und
deren Position mir auch angenehmer ist als die von Robert Kurz.
Was ich in Ihrem Text aber beispielsweise auch nicht so sehe ist:

"intuitiv-schöpferische Überwindung der niederen menschlichen
Wesenseigenschaften/-kräfte gebunden wie des ambivalenten Hasses, der Gier,
der mitleidlosen Rache, der Sucht nach allen möglichen Kompensationen, des
Egozentrismus u.a.m."

Ich denke nicht, dass es solche "niederen menschlichen
Wesenseigenschaften/-kräfte" gibt. Wir kommen da immer wieder zu dem alten
Streit, wo entweder das Böse oder das Gute als primär genommen wird, das
entweder zu überwinden oder frei zu legen ist. Solche Zuschreibungen: "Der
Mensch ist eigentlich/primär... so oder so" wäre tatsächlich eine
Ontologisierung, wie ich sie auch nicht anerkennen würde. Ich halte mehr von
der Bestimmung des individuell-Subjektiven, die das "wie" offen läßt, aber
festhält, dass der Mensch immer die Wahl hat. Auch wenn er die Wahl
(scheinbar) nicht nutzt, hat er gewählt, nicht bewußt zu entscheiden und
auch das hat menschliche - zu verstehende - Gründe (die z.B. in den
gesellschaftlichen Verhältnissen liegen können, die diese oder jene
(Nicht-)Wahl mehr oder weniger nahe legen, aber nicht hundertprozentig
aufzwingen). Sie schreiben das ja selbst: "daß dieses Subjekt die Freiheit
hat, die Welt entgegen der vorgezeichneten Bahnen zu verändern. "

Noch etwas zu Kurz:
"Für das Aufklärungsbewußtsein gibt es entweder Subjekt (Bewußtsein) oder
Objekt, jedoch kein Drittes. Der Schlüsselbegriff für das Verständnis des
'Dritten' und eigentlich Konstitutiven kann nur der Begriff des Unbewußten
sein." (189/190 SH)

Das ist Blödsinn: Nur für abstraktes Denken gilt nur Entweder-Oder. Wie kann
man nur die Vermittlung vergessen? Vermittlung im Prozess - Vermittlung mit
Mitteln, die z.B. auch wesentlich historisch veränderbar sind, wie die
Betrachtung der Arbeitsmittel verrät (wer sich nicht mehr mit Arbeit als
wesentlicher menschlicher Aktivität beschäftigt, wie Kurz, vernachlässigt
diesen Modus dann halt auch).

Ich betone dann immer noch, dass auch in der Erkenntnis neben der Beziehung
Erkenntnisobjekt-Erkenntnissubjekt die Betrachtung der Erkenntnismittel
unabdingbar ist. Dann käme man auch über Kant hinaus (und über Hegel, wenn
man die Mittel auch als gegenständliche versteht)

Übrigens sind zu  manchen der uns beide interessierenden Punkte die
Ausführungen von

Claus Peter Ortlieb: Gesellschaftskritik als Erkenntniskritik. Anmerkungen
zu der Frage, warum Kritik der Theorie bedarf und wo deren Grenzen liegen
(www.exit-online.org) besser geeignet, um auf tatsächlich bestehende Fragen
hinzuweisen (und Ortlieb gehört ja zu denen, die nach der Spaltung weiter zu
Kurz gehören).

Er beschreibt genauer, wie man trotz der eigenen Verflochtenheit kritisch
denken kann:

"Unser Denken, ob kritisch oder nicht, ist in seinen Formen durch die
Warengesellschaft bestimmt. Die Besonderheit kritischen Denkens besteht nun
darin, dass dieser Umstand mitbedacht, das Denken also stets auf die
Warengesellschaft und ihre spezifischen Kategorien (Ware, Wert und nach
neueren Erkenntnissen Arbeit) in kritischer Weise rückbezogen ist."

" Indem sie aber diese Denkformen selbst zu ihrem Gegenstand macht, ihre
Genese erhellt und sie ebenso wie die ihr zu Grunde liegenden
gesellschaftlichen Verhältnisse als spezifisch für die eine besondere
Gesellschaftsform kenntlich macht, geht sie über bürgerliches Denken
hinaus."

Sie schreiben:
"Der Fetisch funktioniert nur so lange, wie die Menschen sich
emotional-aufschauend an die Illusion und Vorstellung klammern bzw. binden,
daß vom entsprechenden Fetisch zumindest für einen persönlich das Wohl und
Wehe, das Glück des Lebens abhängig sei - so z.B. von der abstrakten Arbeit."

Ich denke, das ist ganz wichtig und richtig. Allerdings ergibt sich dann
eben die Frage, dass das Anklammern oder sich Lösen individuell erfolgt,
aber die Abschaffung als Gesellschaftssystem irgend eine Art Organisierung
braucht!

"Die endgültige Überwindung eines allgemein-destruktiven Automatismus wird
letztlich nur gemeinschaftlich möglich sein und muß alle Menschen erfassen -
egal wie utopisch dies angesichts des grassierenden Kapitalismus klingt. "

Eben. Und ich denke, so schlecht sieht es gar nicht aus. Ich habe viel mit
"einfachen" Leuten zu tun, die genau spüren, dass es so nicht weiter geht,
dass eine normale "gutbürgerliche" Existenz eine Illusion ist. Leider finden
sie den Ausweg meist nicht in den Richtungen, die solche Leute wie wir
bevorzugen. Im Prinzip war das in der DDR doch auch so: Noch lange hielten
viele an einem "besseren Sozialismus" fest (was ich auch gut fand) und
urplötzlich war aber eigentlich allen (auch mir), dass DIESER Kaiser in
Wirklichkeit nackt war. Die Erkenntnis der Nacktheit des Kapitalismus ist
eigentlich bei vielen schon vorhanden - aber mangels Alternativen noch  tun
alle noch so, als würden sie es nicht sehen.

"Wie sich allerdings die heranwachsenden Computer-Generationen in Zukunft
verhalten werden, da in ihrer geistig-ethischen Entwicklung geschwächt, ..."

Ich weiß nicht, ob man so pessimistisch sein muss. Es wird immer wieder
konstatiert, wieviel schlechter alles wird. Aber mal ehrlich: wieviel
bewußter, aufgeklärter, klüger oder belesener waren denn jeweils frühere
Generationen? Es gab immer eine Elite, und es gab immer eine Menge einfacher
Leute, für die Denken noch  nie ein besonderes Hobby war. Ich denke,
historisch gesehen war der Bildungsstand und die Möglichkeit für Individuen,
statt ihr Leben nur in schwerer Arbeit zu verbrauchen, sich freier (auch
geistig) zu entfalten, noch nie so hoch. Vielleicht sind die Möglichkeiten
viel höher, als Menschen sie ausnutzen - aber ich denke trotzdem, die Bilanz
ist nicht so schlecht.

Ansonsten muss ich gestehen, dass ich die entsprechenden Schriften von Kurz
noch nicht gelesen habe. Ich werd sie mir nun doch besorgen. Nach dem, was
ich bei Ihnen dokumentiert finde, bin ich wirklich entsetzt, wie dümmlich
Kurz die primitivsten philosophischen Fehler macht. Wie kann er nur die
Inhalte auf diese Weise gegen die Formen setzen? Er setzt konkrete Inhalte
gegen abstrakte und zu Fetischen werdende Formen. Das, was daran richtig ist
(der Aspekt, dass Inhalt und Form nie ganz identisch sind), würde weiter
(wenigstens) zur Hegelschen Dialektik führen, die er ja aber explizit
verdammt hat.

"Ohne eine ursprüngliche Potenz zu Neuem wäre überhaupt die Welt nicht im
Prozeß und somit nicht existent. Woher kommt die Potenz, die zur Ausbildung
einer neuartigen Qualität führt? Der Physik-Szientismus erhebt den Anspruch,
die Welt bald oder irgendwann vollständig erklären zu können. Aber selbst
die neusten Erkenntnisse zur Stringtheorie können diesem Anspruch nicht
einmal annähernd entsprechen; sie sind lediglich ein reines Aufzählen und
Beschreiben von mikrokosmischen Zuständen, Prozessen. Weshalb irgendein
ursächlicher Zustand, Prozeß in einen höherqualitativen, umfassenderen
transformiert, wie es zur Ausbildung einer neuen, zuvor nicht dagewesenen
Qualität kommen kann, bleibt weiterhin für die empirisch-theoretische
Wissenschaft unerklärlich."

Ja, die Physiker wissen nicht, was sie tun, die Aufklärerische
Weltanschauung, die wissenschaftlich sein will, verwischte den
wahrscheinlich immer notwendigen Unterschied zwischen Einzelwissenschaft und
ganzheitlich-menschlicher Weltanschauung. Während es für Physiker nicht zu
ihrem Fach gehört, das wissen zu müssen, müssten es Philosophen und andere
kluge Menschen wissen, dass sie der Physik keine Leistungen abverlangen
können, die da nicht hingehören (eine "Klassische Mechanik" nach Newton ist
keine "mechanistische Welterklärung" - erst Voltaire hat das draus gemacht).

Zur Bedeutung der Potenz des Neuen: dies ist eigentlich der Dreh- und
Angelpunkt der Philosophie Ernst Blochs. Kennen Sie die? (siehe bei mir ein
paar Verwendungen Blochschen Denkens unter
http://www.thur.de/philo/bloch.htm).

"Der Begriff >Logos< beinhaltet sowohl die logische als auch die alogische,
überlogische Ausrichtung der Welt. Bei Hegel verkam dieser Begriff der
Bedeutung nach zu einer auch den Menschen unpersönlich durchherrschenden
Weltvernunft, die sich listig allgemeine Geltung verschafft. "

So muss Hegel nicht interpretiert werden. "Unpersönlich" ist die
Weltvernunft nur gegenüber unvernünftigen Menschen. Alle anderen Momente der
Weltvernunft, zu denen der Durchgang durch das Fühlen und einfache und
komplizierte Denkformen gehört, sind aber notwendig immer enthalten im
Ganzen, also auch niemals völlig unpersönlich (so wie die Kurzschen
Gesellschaftssysteme ohne die Menschen nicht funktionieren würden). Es ist
ganz wichtig, begriffen zu haben, was Hegel unter "Vernunft" versteht, dann
weiß man, dass vieles, was ihm vorgeworfen wird, gar nicht stimmt.

"Doch anders als bei Hegel kann man sagen, daß der Logos über sein logisches
Element hinaus wesentlich das zur geistigen Freiheit hinwirkende
überlogische Sinn-Element der Welt ist, daß der Logos erst im freien Geist
der gemeinschaftsstiftenden Persönlichkeit, in der Wahrheit und Fülle des
Lebens verwirklicht werden kann. "

Wieso "anders als bei Hegel"??? Sie bedienen hier ein Vorurteil gegen Hegel,
das seinen Texten nicht gerecht wird. (Ich werde mich hüten, das jetzt
auszuführen, ich will es nur als Merkzeichen anbringen.)
...

Beste Grüße
von Annette Schlemm

*********************
www.Annette-Schlemm.de
*********************

08.04.2005

Meine Antwort:

 

Hallo Annette,

vielen Dank für Ihre Reaktion (04.04.2005), über die ich mich sehr gefreut habe!

 

"Sie reagieren damit sicher auf meine 'Kritik der abstrakten Subjektkritik'."

 

Ich sah hier einen Anknüpfungspunkt.

 

Sie schreiben:

"Ich denke nicht, dass es solche 'niederen menschlichen Wesenseigenschaften/-kräfte' gibt. Wir kommen da immer wieder zu dem alten Streit, wo entweder das Böse oder das Gute als primär genommen wird, das entweder zu überwinden oder frei zu legen ist. Solche Zuschreibungen: 'Der Mensch ist eigentlich/primär... so oder so' wäre tatsächlich eine Ontologisierung, wie ich sie auch nicht anerkennen würde. Ich halte mehr von der Bestimmung des individuell-Subjektiven, die das 'wie' offen läßt, aber festhält, dass der Mensch immer die Wahl hat. Auch wenn er die Wahl (scheinbar) nicht nutzt, hat er gewählt, nicht bewußt zu entscheiden und auch das hat menschliche - zu verstehende - Gründe (die z.B. in den gesellschaftlichen Verhältnissen liegen können, die diese oder jene (Nicht-)Wahl mehr oder weniger nahe legen, aber nicht hundertprozentig aufzwingen)."

 

Ich habe längere Zeit darüber nachgegrübelt, ob ich nur von "Wesenskräften" oder auch von "Wesenseigenschaften" sprechen soll. Der Begriff "Wesenseigenschaft" deutet zunächst auf etwas Festgeschriebenes. Aber ich beziehe mich auf Eigenschaften, die der Mensch im Akt seines Handelns und in seinem Weltbezug entwickelt und die ich eben deshalb synonym vor allem auch als Wesenskräfte bezeichne. An anderer Stelle in meinen "Entgegnungen" spreche ich auch von der unergründlichen Freiheit als Ausgangspunkt aller Prozesse. Ich behaupte nicht, daß "entweder das Böse oder das Gute als primär genommen wird", sondern daß die Möglichkeit zum Guten und zum Bösen in der Freiheit des Menschen potentiell angelegt ist. Die Freiheit ist nicht gut oder böse und die Freiheit des Menschen als sein Handlungsimpuls und somit der Mensch an sich ebensowenig. Aber dieser Impuls entsteht nur in der Bezogenheit zur Welt im weitesten Sinne. Und in der Bezogenheit zur Welt kann der Mensch spontan, frei beispielsweise sowohl Liebe als auch Haß entwickeln. Ich sage nicht, daß beispielsweise die Liebe oder der Haß ohne Bezogenheit irgendwie primär existieren, daß der Mensch schon von vornherein Liebe und Haß statisch festgeschrieben in sich trägt, sondern im Gegenteil, erst in der Bezogenheit, im Prozeß des Lebens, können Liebe und Haß im Geiste des Menschen hervortreten, und erst dann kann der Mensch entweder gemäß der Liebe konkret schöpferisch-ethisch oder, dem Haß freien Lauf lassend, destruktiv handeln. Die ursprünglichste Wesenskraft des Menschen ist seine Freiheit, aus der heraus er sich im Weltenbezug persönlichkeitsstiftend oder -zerstörend verhalten kann. Die wie auch immer geartete Entscheidung bzw. Wahl kann erst nach dem spontanen Auftreten der Wesenkräfte vollzogen werden, d.h., der Mensch ist nicht seinem Haß gänzlich ausgeliefert, sondern kann ihm schöpferisch-ethisch, vom authentischen Persönlichkeitskern her, widerstehen und ihn überwinden. Aber allzu schnell überläßt sich der Mensch seinen impulsiven Haßausbrüchen und hält nicht inne und kann damit, je länger der Haß zugelassen wird, in eine schier ausweglose Geistesverfassung geraten mit entsprechenden Folgen für sein Beziehungsverhalten und seine Lebensgestaltung. Und die Menschen hassen nicht gleichermaßen, manche nahezu gar nicht, nur ansatzweise und nur in wenigen Momenten ihres Lebens. Der Haß wird einerseits durch widrige Umstände (Kapitalismus etc.) provoziert, andererseits jedoch werden Momente des Hasses im Leben niemals absolut überwunden werden können, weil sich die Widerstände und Widrigkeiten des Lebens niemals in ein allumfassendes Nirwana der Harmonie auflösen - täten sie es, käme das einem absoluten Stillstand des Lebensprozesses gleich. Der Persönlichkeit geht es darum, jeglichem Haß schon im Ansatz schöpferisch zu begegnen und letztlich zu überwinden. Dies ist an einen gemeinschaftsorientierten Selbsterkenntnisprozeß gebunden, durch den sich die Persönlichkeit erweitert und stärkt. Auch die Liebe muß entwickelt und gestärkt werden, soll sie nicht den wie auch immer gearteten Widerständen und Widrigkeiten erliegen.

 

Sie:

"Ich betone dann immer noch, dass auch in der Erkenntnis neben der Beziehung Erkenntnisobjekt-Erkenntnissubjekt die Betrachtung der Erkenntnismittel unabdingbar ist. Dann käme man auch über Kant hinaus (und über Hegel, wenn man die Mittel auch als gegenständliche versteht)"

 

Ich weiß nicht, ob ich Sie hier richtig verstanden habe. Ich möchte dennoch zu bedenken geben, daß im wesenhaft persönlichkeitsorientierten existentiellen Erkenntnisvollzug zusammen mit der Selbstbeobachtung/Selbsterkenntnis die ›Betrachtung‹ zugleich mitvollzogen wird. Wir Menschen als ganzheitlich-integrale Persönlichkeitssubjekte erkennen beispielsweise unsere Liebe niemals durch die Vorstellung/Objektivierung, sondern immer nur aus dem existentiellen Akt der sich gerade vollziehenden Liebeserfahrung und ihrer konkreten existenzdialektischen Bezogenheit (Ich-Du-Wir) heraus. Diese Liebeserfahrung können wir symbolisch, durch Metapher, allegorisch ausdrücken und philosophisch deuten. Mit dem Vollzug der Liebe sind wir schon immer über jegliche Philosophie hinaus. Die Liebe, die die Freiheit mit sich führt, ist der ursächlichste Beweggrund der Philosophie. Für unsere Lebensgestaltung kommt es nun darauf an, welche Bedeutung wir diesem existentiellen Beweggrund beimessen und welche Konsequenzen sich dann konkret daraus ergeben. Das ist eben vor allem auch ein geistig-philosophischer Akt, der wiederum für die Verwirklichung der Liebe im Leben und in der Gemeinschaft unverzichtbar ist.

 

Sie:

"Übrigens sind zu manchen der uns beide interessierenden Punkte die Ausführungen von Claus Peter Ortlieb..."

 

Danke für den Hinweis! Aber auch die von Ihnen angeführten Zitate sagen nichts darüber aus, von welchem Grundsatz, welcher Motivation aus "kritisches Denken" gegenüber den "Denkformen" überhaupt möglich ist. Ich beziehe mich meinerseits dazu auf die ethische Grundintuition, gespeist von den schöpferisch-ethischen Wesenskräften.

 

Sie zitieren mich:

"Die endgültige Überwindung eines allgemein-destruktiven Automatismus wird letztlich nur gemeinschaftlich möglich sein und muß alle Menschen erfassen - egal wie utopisch dies angesichts des grassierenden Kapitalismus klingt. "

Sie:

"Eben. Und ich denke, so schlecht sieht es gar nicht aus..."

 

Ich muß zugeben, daß ich gegenwärtig pessimistischer bin. Die derzeitig vulgär-materialistische Ausrichtung der Menschen korrumpiert sie fortlaufend und massenhaft.

 

Sie:

"Ich weiß nicht, ob man so pessimistisch sein muss. Es wird immer wieder konstatiert, wieviel schlechter alles wird. Aber mal ehrlich: wieviel bewußter, aufgeklärter, klüger oder belesener waren denn jeweils frühere Generationen? Es gab immer eine Elite, und es gab immer eine Menge einfacher Leute, für die Denken noch nie ein besonderes Hobby war. Ich denke, historisch gesehen war der Bildungsstand und die Möglichkeit für Individuen, statt ihr Leben nur in schwerer Arbeit zu verbrauchen, sich freier (auch geistig) zu entfalten, noch nie so hoch. Vielleicht sind die Möglichkeiten viel höher, als Menschen sie ausnutzen - aber ich denke trotzdem, die Bilanz ist nicht so schlecht."

 

Aber die jungen Menschen wissen oft auch nicht mehr, was sie wirklich wollen, d.h., sie gönnen sich keine Ruhepause, keine "Muße", die Robert Kurz richtigerweise anmahnt, um sich auf ihre Wesenskräfte zu besinnen, um diese dann ins kritische Verhältnis zu den Umständen bringen zu können. Die vielen Möglichkeiten zerreißen sie förmlich. Sie wollen oft alles, verlieren sich im äußerlichen Aktionismus. Ja, die jungen Generationen scheinen oftmals "bewußter, aufgeklärter, klüger oder belesener" zu sein. Aber sie sind auch gehetzter, werden getrieben von den Eindrücken, die von außen auf sie einstürmen und auch Chaos in ihnen entfachen. Auch sind sie oftmals "bewußter, aufgeklärter, klüger oder belesener", um sich behaupten zu können, um erfolgreich zu sein im Sinne der "Denkformen". Aus Erfahrung kann ich sagen, daß viele sogenannte Aussteiger der Gesellschaft letztlich abermals scheitern, weil sie von ihren mitgeschleppten "Denkformen" und althergebrachten Prinzipien, dem gewohnten Erfolgsstreben nicht wirklich loskommen - hier denke ich besonderes an Versuche, alternative Lebensweisen zu entwickeln bzw. alternative Kommunen aufzubauen. Usw. usf.

 

Sie:

"Nach dem, was ich bei Ihnen dokumentiert finde, bin ich wirklich entsetzt, wie dümmlich Kurz die primitivsten philosophischen Fehler macht."

 

Nein, ich finde es nicht richtig, hier von "dümmlich" zu sprechen. Die Ursache für "Fehler" sind einerseits Kurz' Vorurteile, die bei ihm immer wieder anklingen und die er wie auch immer verquer zu rechtfertigen versucht. Dabei wird er auch ungerecht. Andererseits ist seine Kritik der Moderne, der Warengesellschaft in sehr vielen Punkten zutreffend und anregend - da zeigt sich, daß er ganz und gar nicht "dümmlich" ist.

 

Interessant auch Ihr Hinweis zu Ernst Bloch!

 

Zu Hegel:

Ich meinerseits muß gestehen, Hegel zu lesen fällt mir immer noch schwer. Vielleicht ändert sich das ja noch. Die für mich stimmigste Hegelinterpretation, eingebettet in seine Philosophie, fand ich bei N. Berdjajew. Deshalb möchte ich zunächst auf Ihre Einwände mit dem folgenden Zitat antworten:

 

[Aus: N. Berdjajew, Versuch einer eschatologischen Metaphysik, Hartmut Spenner Waltrop Verlag, 2001, S. 39 bis 43; Herausgeber: Gertraude und Klaus Bambauer.]

 

"Hegels Philosophie ist eine Philosophie des Geistes. Er behauptet die Vorherrschaft des Geistes über die Natur. In der Natur liegt die Potenz des Geistes. Geist ist die Einheit von Subjekt und Objekt, seiner selbst und der Natur, des Denkens und der Anschauungen. Für den hegelschen Monismus ist sehr wesentlich, dass der Geist sich als Religion, Kunst, Staat, Seele und Natur organisiert. Deshalb existiert für ihn objektiver Geist, worin ich den Hauptirrtum Hegels und der monistischen Lehre vom Geist sehe. [Anmerkung Klaus Bambauer: Vgl. dazu Dietrich, Provokation der Person Bd. 2: 'Objektiver Geist' ist für Berdjajew 'objektivierter Geist', d.h., nach außen getretene, sich selbst entfremdete, gefallene Fehlgestalt des Geistes. Dietrich zitiert Berdjajew: 'Hegel versteht nicht, daß die Selbstentfremdung des Geistes in die Objektivität hinein Fall ist . . . Er anerkennt fälschlich die Existenz des objektiven Geistes, anstatt nur die Objektivation des Geistes anzuerkennen" (a.a.O. S. 38) ] Kroner besteht darauf, dass Hegel den Begriff vernunftwidrig gemacht und deshalb das Irrationale in die Geschichte des philosophischen Denkens eingeführt habe. Dialektik ist die Unruhe und das Leben des Begriffs. Aber die Unruhe hört auf, der Widerspruch wird überwunden, der dialektische Prozess nimmt in einer höheren Synthese ein Ende. Darin lag Hegels Scheitern. In der Dialektik offenbart sich die Eigenbewegung des Denkens, aber sie endet innerhalb der Grenzen dieser objektiven Welt. Der Widerspruch verschwindet, er führt nicht bis zum Ende dieser Welt. Doch Kroner verneint, dass Hegel Panlogist gewesen sei. Alles ist Geist, die Welt wird vergeistigt. Für den hegelschen Universalismus ist das Ganze die Wahrheit, und Einzelthesen sind nur als Teil des Ganzen wahr. Der Geist stellt sich der Natur entgegen. Die absolute Vernunft trägt ihr Entgegengesetztes in sich. Das Absolute ist die Überwindung des Gegensatzes zwischen Innerem und Äußerem. Die Gegensätze sind identisch. Bei Hegel findet eine Selbstentfremdung des Geistes statt, und dies ist vielleicht das Bemerkenswerteste bei ihm. Doch das Scheitern des hegelschen universalen Monismus bestand darin, dass das Absolute sich in Gestalt der absoluten Notwendigkeit verwirklicht. Deshalb kennt Hegel, wieviel er auch über die Freiheit gesagt hat, die Freiheit nicht. [Anmerkung Klaus Bambauer: An dieser Stelle gibt Dietrich, Provokation der Person, Bd. 2, die Kritik Berdjajews wieder: 'Hegel erkannte die Freiheit als Wesensmerkmal des Geistes. Man könnte darin geradezu das formale Verdienst seiner Philosophie des Geistes sehen. Aber welch seltsame Ironie des Denkens! Die Freiheit Hegels ist Versklavung des Menschen, Vergötterung des Zwangs und der Gewalt' (S. 36).] Hegel behauptet die Identität von Geist und Philosophie, und zwar seiner, der hegelschen Philosophie. Dies ist der fürchterlichste philosophische Stolz, den die Geschichte der Philosophie kennt. Kroner spricht vom eschatologischen und prophetischen Charakter des deutschen Idealismus. Darin liegt Wahrheit. In der deutschen Metaphysik gibt es Endlichkeit, eine Neigung zur letzten Vollendung. Aber diese letzte Vollendung wird immanent, innerhalb der Grenzen dieser Welt gedacht, in der sich der Geist mittels der dialektischen Entwicklung endgültig offenbart. Die Hauptsünde dieser idealistischen Metaphysik lag in ihrem Monismus, der innerhalb der Grenzen der gefallenen Welt unmöglich ist, in ihrem Antipersonalismus und ihrem falschen Verständnis von Freiheit. Kant war mit seinem Dualismus, mit seiner Metaphysik der Freiheit und mit seinem ethischen Personalismus mehr im Recht. Für Hegel steht die Idee über allem. Aber höher als die Idee steht das lebendige Geschöpf. Für Hegel steht die Geschichte, in der sich der Siegeszug des Weltgeistes zeigt, über allem. Er lehrt die List der Vernunft in der Geschichte. Er versteht den Konflikt zwischen Persönlichkeit und Geschichte nicht; die Geschichte ist für ihn keine tragische Sache; er ist Optimist [Hervorhebung von mir - D.H.]."

 

Sie:

So muss Hegel nicht interpretiert werden. "Unpersönlich" ist die Weltvernunft nur gegenüber unvernünftigen Menschen."

 

Aber so gesehen steht die "Weltvernunft" auch über der Persönlichkeit, beherrscht diese, macht sie fremdbestimmt. Die "Weltvernunft" verlangt, daß ich in ihrem Sinne vernünftig bin. Das schließt die schöpferische Freiheit jedes einzelnen Menschen von vornherein aus, welche darin besteht, Wahrheit selbstbestimmt zu erlangen. ›Vernunft‹ im freiheitlichen Sinne muß erst persönlich von jedem einzelnen Menschen im Gemeinschaftsvollzug existentiell-geistig erworben werden und ist niemals absolut, sondern bedarf der fortlaufenden Erneuerung. ›Vernunft‹ im freiheitlichen Sinne dient keiner über ihr stehenden höheren Vernunft, denn "höher als die Idee steht das lebendige Geschöpf".

 

Sie:

"Alle anderen Momente der Weltvernunft, zu denen der Durchgang durch das Fühlen und einfache und komplizierte Denkformen gehört, sind aber notwendig immer enthalten im Ganzen, also auch niemals völlig unpersönlich (so wie die Kurzschen Gesellschaftssysteme ohne die Menschen nicht funktionieren würden). Es ist ganz wichtig, begriffen zu haben, was Hegel unter "Vernunft" versteht, dann weiß man, dass vieles, was ihm vorgeworfen wird, gar nicht stimmt."

 

D.h. also, "Fühlen und ... Denkformen ... Menschen" sind nur als Teile im "Ganzen" enthalten. Deshalb entgegne ich:

"Der Begriff >Logos< beinhaltet sowohl die logische als auch die alogische, überlogische Ausrichtung der Welt. Bei Hegel verkam dieser Begriff der Bedeutung nach zu einer auch den Menschen unpersönlich durchherrschenden Weltvernunft, die sich listig allgemeine Geltung verschafft. "

Und in diesem Zusammenhang meine ich dann:

"Doch anders als bei Hegel kann man sagen, daß der Logos über sein logisches Element hinaus wesentlich das zur geistigen Freiheit hinwirkende überlogische Sinn-Element der Welt ist, daß der Logos erst im freien Geist der gemeinschaftsstiftenden Persönlichkeit, in der Wahrheit und Fülle des Lebens verwirklicht werden kann. " - Jedoch nicht als Verwirklichung der "Weltvernunft" als ein übergeordnetes "Ganzes", sondern als Verwirklichung der jeweils vom Menschen als Persönlichkeit individuell-einzigartig zu erringenden existentiellen Wahrheit. Die Persönlichkeit ist einzig ein Ganzes im Sinne der geistig-integralen Einheit von Körper, Seele, Geist und Gemeinschaft. Eine "Weltvernunft" an sich kann und wird es niemals geben. Wenn man überhaupt von einer "Weltvernunft" sprechen will, dann immer nur im Sinne eines untergeordneten und individuell abgeänderten geistigen Phänomens der auf die Welt gemeinschaftlich bezogenen Persönlichkeit. Bzw., mit dem existentiellen Persönlichkeitsvollzug ändert jeder Mensch eine sogenannte "Weltvernunft" individuell-einzigartig ab, welche damit schon keine absolute reine "Weltvernunft" mehr ist, sondern ein persönlich gefärbtes, wenn auch unabdingbares Bewußtsein von der vernünftigen Übereinkunft insbesondere mit anderen Menschen und mit der Welt im weitesten Sinne hinsichtlich der Gestaltung eines gemeinschaftlichen Lebens. (Mehr zu diesem Thema finden Sie auch in meiner Auseinandersetzung: Berdjajew kontra Wilber)

 

Sie:

Wieso "anders als bei Hegel"??? Sie bedienen hier ein Vorurteil gegen Hegel, das seinen Texten nicht gerecht wird. (Ich werde mich hüten, das jetzt auszuführen, ich will es nur als Merkzeichen anbringen.)

 

Ich hoffe, meinen Standpunkt und den Unterschied zu Hegel deutlich gemacht zu haben.

 

Herzliche Grüße

Dirk Hübner

 

10.04.2005

Annette Schlemms Reaktion auf meine Antwort vom 08.04.2005:

 

Hallo,

...

„Ich habe längere Zeit darüber nachgegrübelt, ob ich nur von "Wesenskräften"
oder auch von "Wesenseigenschaften" sprechen soll. „

Vielleicht ein Hinweis dazu: Es fällt wenig auf – aber ein Sprechen über
Eigenschaften ist relativ typisch für antikes und feudales, eher statisches
Denken, während in der dynamischeren Neuzeit eher Verhaltensweisen gemeint
sind. Beispielsweise in der Physik: Dass Körper eine Masse haben, ist keine
Eigenschaft, auch wenn es so klingt. Tatsächlich aber kennzeichnet die
(träge) Masse eine Verhaltensweise, nämlich Widerstand gegen die Änderung
des Bewegungszustandes (gegen Krafteinwirkung) auszuüben. In der
Wissenschaftsphilosophie gibt es auch eine Philosophin, die das deutlich
macht damit, das wir eigentlich nicht „gezeigte Eigenschaften“ untersuchen,
sondern „Capacities“, also Fähigkeiten für verschiedenes Verhalten (Nancy
Cartwright, siehe http://www.thur.de/philo/project/cartwright_de.htm, in
allen Fragen stimme ich nicht mit ihr überein). Die Objekte besitzen die
Fähigkeiten – in unserem (z..B. experimentellen) Umgang mit ihnen kommen wir
in Wechselwirkung mit ihnen und sie zeigen uns jeweils einige ihrer
Fähigkeiten. Es wäre als erst recht unangemessen, bei Menschen zu dem
statischen Eigenschaftsdenken zurückzukehren.

 „unergründlichen Freiheit“

Ich denke, so unergründlich ist sie gar nicht. Es gibt von Klaus Holzkamp
eine große Studie „Grundlegung der Psychologie“, wo er die Entwicklung der
psychischen Fähigkeiten in der Tierwelt bis hin zum entscheidenden
qualitativen Sprung zur freien Entscheidungsfähigkeit bei Menschen
nachvollzieht.

 „Ich sage nicht, daß beispielsweise die Liebe oder der Haß ohne Bezogenheit
irgendwie primär existieren, daß der Mensch schon von vornherein Liebe und
Haß statisch festgeschrieben in sich trägt, sondern im Gegenteil, erst in
der Bezogenheit, im Prozeß des Lebens, können Liebe und Haß im Geiste des
Menschen hervortreten, und erst dann kann der Mensch entweder gemäß der
Liebe konkret schöpferisch-ethisch oder, dem Haß freien Lauf lassend,
destruktiv handeln.“

Ja, das sehe ich auch so. Eins allerdings kann man „festgeschrieben“
annehmen: Menschen reproduzieren ihr Leben selbst – und das könnten sie
nicht, wenn sie  nur haßerfüllt wären oder sich nur konkurrierend verhalten
würden (wie manche soziobiologischen Ansätze ja eher behaupten) – sondern
dafür brauchen sie ein großes Maß an spezifischer Kooperation. Die hat sich
dann auch in unseren Fähigkeiten stark eingeschrieben – sonst hätte die
Menschheit nicht überlebt.

Ich schrieb dann etwas zu Erkenntnismitteln und sie antworteten mit dem
Beispiel Liebe.

Hier geht es mir gerade darum zu zeigen, dass die menschlichen Beziehungen
untereinander und zur Welt gerade nicht immer nur durch unmittelbare
Beziehungen, wie z.B. Liebe, geprägt sind, sondern dass die Vermittlung
wesentlich ist. Da ist die Liebe einfach das falsche Beispiel dafür. Ich
plädiere dann eher dafür, über Menschen in Gesellschaft eben nicht nur in
unmittelbar-direkten Beziehungen zu sprechen, sondern jene Beziehungen, die
über Mittel laufen (Arbeit, wissenschaftliche Erkenntnis über historisch
entwickelte Erkenntnismittel) auf jeden Fall wesentlich mit zu betrachten
(weil über deren historische Entwicklung auch die Entwicklung der Menschheit
wesentlich mit läuft).

Zu Ortlieb: „Aber auch die von Ihnen angeführten Zitate sagen nichts darüber
aus, von welchem Grundsatz, welcher Motivation aus "kritisches Denken"
gegenüber den "Denkformen" überhaupt möglich ist.“

Ortlieb findet: kritisches Denken 1. Es erzeugt Wissen über die
Geschichtlichkeit der Gesellschaftsform und 2. Wissen darum, dass die eigene
Kritik Bestandteil des zu kritisierenden Gegenstandes ist, es weiß also um
seine eigene Begrenztheit (Ortlieb 2002)

Es kommt darauf an, „dass dieser Umstand mitbedacht, das Denken also stets
auf die Warengesellschaft und ihre spezifischen Kategorien (Ware Wert und
nach neueren Erkenntnissen Arbeit) in kritischer Weise rückbezogen ist“.

 „Ich beziehe mich meinerseits dazu auf die ethische Grundintuition, gespeist
von den schöpferisch-ethischen Wesenskräften.“

Naja, das ist eine starke Voraussetzung, an die ich nicht unbedingt glauben
muss. Man muss ja dann jedesmal sagen: "Was ist die ethische
Grundintuition?" und Woher kommt sie??? Heute ist die "ethische
Grundintuition" der Leute, dass Menschen wie Terri Schiavo sterben "dürfen"
sollen. Ich hoffe aber, sie ändert sich noch.

 „Ich muß zugeben, daß ich gegenwärtig pessimistischer bin. Die derzeitig
vulgär-materialistische Ausrichtung der Menschen korrumpiert sie fortlaufend
und massenhaft.“

Ja, aber ich wiederhole meine historische Sicht: War es denn je besser????
(für die Mehrheit der Menschen, nicht nur eine Elite)

 „Aber die jungen Menschen wissen oft auch nicht mehr, was sie wirklich
wollen,“

Wußten sie es denn früher???? Ich erlebe, dass die Älteren gar nicht gefragt
wurden, und sich auch meistens nicht fragten, ob sie selbst etwas anderes
wollten, als ihre Umwelt ihnen aufdrängte. Noch in meiner Generation war man
als „Lebenssinnsuchende“ sehr, sehr einsam.

 „ sie gönnen sich keine Ruhepause, keine "Muße", die Robert Kurz
richtigerweise anmahnt, um sich auf ihre Wesenskräfte zu besinnen, um diese
dann ins kritische Verhältnis zu den Umständen bringen zu können. Die vielen
Möglichkeiten zerreißen sie förmlich. Sie wollen oft alles, verlieren sich
im äußerlichen Aktionismus.“

Und was hat unsere Generation gemacht? Einfach das Erstbeste genommen
(beruflich, familiär) und sich dann „eingemauert“. (Daher kam dann die
midlife-crisis,die aber meist auch nichts mehr rettete). Wer hat sich denn
da mit Muße selbst seinen Lebenssinn gebildet? Doch auch nur eine kleine
„Elite“. Ich habe, ehrlich gesagt, für die Jungen heute mehr Verständnis als
für meine eigene Generation. Wir hätten den Spielraum gehabt. Die Jungen
spüren sehr genau, dass ihre Alternativen nur Scheinalternativen sind und
sie verdrängen deshalb die große Angst darum, dass sie eigentlich keine
wirkliche Zukunft haben.

Zu Kurz:

Ich habe das „dümmlich“ gerade deshalb gebraucht, weil es für seine
Intelligenz eigentlich unnötig ist, so fehl zu gehen.

„ Andererseits ist seine Kritik der Moderne, der Warengesellschaft in sehr
vielen Punkten zutreffend und anregend - da zeigt sich, daß er ganz und gar
nicht "dümmlich" ist.“

Naja, aber das ist doch alles nicht neu. In seinem Alter hat er das alles
schon in den 70ern gelernt, als er noch jung war. Irgendwie fällt mir bei
ihm öfter das Bonmot ein: „Was bei ihm richtig ist, ist nicht neu und was
neu ist, ist nicht richtig.“ Aber ich merk an mir selbst, dass über die
80er-90er eine Wissenslücke eingetreten ist, die Jüngeren wissen das alles
gar nicht mehr und ich finde auch manches selbst erst ganz erstaunt in
antiquarischen Büchern.

 „Ich meinerseits muß gestehen, Hegel zu lesen fällt mir immer noch schwer.
Vielleicht ändert sich das ja noch.“

Ich glaube nicht. Das muss auch so schwer bleiben, wenn es einem etwas sagen
soll. Es muss ja im Denken was verändern, was nicht passiert, wenn es so
„leicht“ ist, dass man es mit dem, was man schon im Kopf hat, einfach
zusammen paßt.

Z.B. muss man sich auch erst mal drauf einlassen, wie Hegel seine Kategorien
bestimmt und was sie deshalb bei ihm bedeuten und nicht einfach das
hineinlesen, was man selbst bisher darunter versteht („Geist“...).

 „Aber so gesehen steht die "Weltvernunft" auch über der Persönlichkeit,
beherrscht diese, macht sie fremdbestimmt. Die "Weltvernunft" verlangt, daß
ich in ihrem Sinne vernünftig bin.Das schließt die schöpferische Freiheit
jedes einzelnen Menschen von vornherein aus, welche darin besteht, Wahrheit
selbstbestimmt zu erlangen. „

Nein, gerade nicht! Die Weltvernunft steht nicht „über“ den Menschen,
sondern entwickelt sich IN ihnen, und gerade nur im schöpferischen Leben der
Menschen. Ohne dieses Schöpferische würde das System Hegels nach der Logik
und der Naturphilosophie aufhören und die ganze Geistphilosophie wäre weg.
Hegels Geist bezieht sich allerdings tatsächlich nicht nur auf die Menschen,
sondern würde für alle intelligenten Wesen des Universums passen, deshalb
schreibt er dort eher nicht über „Menschen“.

 „›Vernunft‹ im freiheitlichen Sinne muß erst persönlich von jedem einzelnen
Menschen im Gemeinschaftsvollzug existentiell-geistig erworben werden und
ist niemals absolut, sondern bedarf der fortlaufenden
Erneuerung. ›Vernunft‹ im freiheitlichen Sinne dient keiner über ihr
stehenden höheren Vernunft, denn "höher als die Idee steht das lebendige
Geschöpf".“

Ja und was sagt das gegen Hegel???????

Ein Unterschied fällt mir auf: Vernunft ist bei Hegel nicht nur ein
psychischer Begriff und als solcher gibt es sie nicht nur im Kopf einzelner
Menschen. Es gibt sie dann aber auch in der Art und Weise der Gesellschaft,
in der sich die Individuen reproduzieren usw. Im Sinne von : „In der
Gesellschaft steckt insoweit Vernunft/ sie ist insoweit vernünftig, als in
ihr die Bedürfnisse der Menschen auf angemessene Weise befriedigt werden
können und die Menschen sich als freie Individuen verwirklichen können.“
(das ist jetzt kein original Hegelscher Satz, sondern meine Übersetzung für
eine Grundidee).

 „Logos...Bei Hegel verkam dieser Begriff der Bedeutung nach zu einer auch
den Menschen unpersönlich durchherrschenden Weltvernunft, die sich listig
allgemeine Geltung verschafft.“

Ach, dieses „List-Argument“. Ich versuch mich grad an so einen Spruch aus
dem Faust zu erinnern: „Du gleichst dem Geist, den Du begreifst, nicht mir.
“. Weil wir typisch bürgerliche Menschen beim Wort List daran denken, dass
jemand bösartig übern Tisch gezogen und für fremde Zwecke ausgenutzt wird,
wird das dem Hegel auch unterstellt. Aber das ist bei ihm nicht so. Um das
zu beweisen, müsste ich seine ganze Geistphilosophie abschreiben, aber das
ist mir nun doch zu viel ;-)

 „Ich hoffe, meinen Standpunkt und den Unterschied zu Hegel deutlich gemacht
zu haben."

Nein, aber das geht auch schlecht, weil die Bedeutungen der Worte zu wenig
geklärt sind. Was Sie bei „Weltvernunft“ denken, ist nicht das, was Hegel
dazu denken würde. Es gibt zu „Mythen über Hegel“ ein wunderbares
(englisches) Buch, ich suche es aber leider schon seit einigen Wochen
selber, deshalb kann ich Ihnen die genauen Angaben nicht schreiben.
...

Beste Grüße

von Annette Schlemm

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www.Annette-Schlemm.de
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13.04.2005

 

Meine Antwort auf eine E-Mail:

 

Hallo,

vielen Dank für Ihre Zusendung!

Ich habe mir die Seite "Gott, Kritische Sicht" angeschaut, welche zunächst als Wegweiser ganz hilfreich sein kann und interessante Anregungen vermittelt.

Ich vertrete einen, ich will mal sagen, existentialistischen Personalismus. Dabei kann ich mich philosophisch auf Nikolai Berdjajew berufen. Genau genommen passe ich in keine der "Formen monotheistischer Gottesvorstellungen", die ich auf Ihrer Seite gefunden habe. Meine Weltsicht ist eine dualistische, welche sich von einem eschatologisch-monistischen Ausblick nährt (siehe auch meine Rezension zu: Nikolai Berdjajew - "Versuch einer eschatologischen Metaphysik"):

Demnach existiert unbewußt Gott in der Welt zunächst als Logos, im personalem Bewußtsein des Menschen dann als Moment des existenzdialektischen Zusammenwirkens des Göttlichen und Menschlichen (siehe dazu insbesondere das Buch Berdjajews: Existentielle Dialektik des Göttlichen und Menschlichen). Den Theismus lehne ich insofern ab, als Gott hier die "Welt erschaffen hat, sie erhält und lenkt". Der persönliche Gott ist für mich nur im persönlichem Geiste existent. Die Welt jedoch hat zur wesentlichen Ursache die Freiheit, aus der heraus der schöpferische Impuls, die Urdynamik hin zur Weltentstehung und geistigen Menschwerdung kommt. Sowohl Weltentstehung innerhalb unseres Äons als auch geistige Menschwerdung innerhalb unseres Lebens können niemals enden. Erst aufbauend auf der ›Urdynamik‹ kann zunächst in der unbelebten Welt der Logos (Logos-Sinn) und dieser dann im personalbewußten Wesen, vor allem im Menschen, als das göttliche Moment (Gott-Sinn) wirksam werden. Gott offenbart sich uns Menschen als die urintuitive personale Geisteskraft hin zur Realisierung unserer jeweils einzigartigen und ganzheitlich-integralen, d.h. gemeinschaftsstiftenden Persönlichkeit. Aber weder Logos noch Gott sind an sich die Ursache der Welt, geschweige denn die alleinige Ursache, welche in der unergründlichen Freiheit liegt, die Jakob Böhme als Ungrund bezeichnete, welcher die unermeßliche Potenz der Welt ausmacht (vergleiche auch Meister Eckharts 'Gottheit in ihrer Abgeschiedenheit'). Wenn also einerseits der Logos in der Welt und andererseits Gott im Menschen wirksam werden, dann jeweils nicht als monistisch vorbestimmte Schöpfungsursache und Stimme des Herren. Sowohl Logos-Sinn als auch Gott-Sinn sind nur in der Freiheit, die sich wiederum zu den jeweiligen Sinnursachen hinbewegen, aber auch von ihnen fortbewegen kann. Die Freiheit im Universum oder die Freiheit des Menschen, die dem Sinnwirken jeweils entgegensteht, erzeugt Chaos bis hin zur Vernichtung. Welche Richtung die Freiheit einschlägt ist auch vom Zufall und vom Schicksal abhängig. Der Mensch jedoch kann das Schicksal schöpferisch einschränken und gegebenenfalls besiegen - dies ist ein ethischer Imperativ der Persönlichkeit.

 

Es gibt für die Schöpfung keinen Automatismus als Ursache. Nur unter bestimmten Bedingungen kann einerseits der Mensch entstehen und andererseits sich Gott als schöpferisch-einzigartig zu erringende existentielle Wahrheit, als gottmenschliche Persönlichkeit ereignen. Und da die Bedingungen ursächlich in der Potenz der Freiheit liegen, sind sie in ihrer letzten Tiefe unergründlich, d.h., in keiner Weise vorbestimmt. Für den Menschen heißt das, daß er für die Bedingungen seines Lebens schöpferische Verantwortung trägt. Nur im Zusammenhang der Persönlichkeit ereignet sich Gott wesentlich als schöpferische Liebe, Wahrheit und Freiheit zugleich. Und wenn ich sage, daß dies nur unter bestimmten Bedingungen geschieht, so richte ich damit auch eine kompromißlose Kritik an die kapitalistische Moderne, die der Persönlichkeit feindlich gegenübersteht. Gott ist unsere Sinnintuition, die uns dazu aufruft, menschenwürdige Bedingungen zu schaffen, damit sich die Fülle des Lebens und der Liebe ereignen kann. Gott kann uns aber niemals zur Fülle zwingen, sondern Bedarf unserer schöpferisch-freien Zugabe und Zustimmung, aus der heraus Er sich frei offenbart oder nicht. Das heißt, auch Gott kann sich nur frei, in Freiheit ereignen. Wahrhaft selbstbestimmt sind wir Menschen nur, wenn wir in Freiheit gemäß unserer göttlichen und zugleich wahrhaft menschlichen Intuition handeln.

 

Soweit meine unvollständige "Meinung". Diese jedoch drückt sich in Begriffen aus, die sich erhellen, wenn man sich weiterhin sowohl in meine Kritiken etc. als auch zuvorderst in Berdjajews Werk vertieft. Diese Arbeit kann ich keinem abnehmen. Und nicht immer kann ich die Folgerichtigkeit und Verständlichkeit zumindest meiner Gedankengänge garantieren.

 

Mit freundlichen Grüßen

Dirk Hübner

 

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