Existentiell begründetes Denken

 

 

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Dirk Hübner

 

Existentielle Kritik kontra "negatorische" Kritik

 

Entgegnungen zu Robert Kurz' "radikaler Kritik"

 

[28.03.2005; vollständige Korrektur 01.07.2005; eine inhaltliche Korrektur 12.01.2006.]

Ich beziehe mich auf Robert Kurz' Essays "Subjektlose Herrschaft - Zur Aufhebung einer verkürzten Gesellschaftskritik" und "Tabula rasa - Wie weit soll, muss oder darf die Kritik der Aufklärung gehen?"

Verwendete Abkürzungen:

SH: Robert Kurz, Blutige Vernunft (Subjektlose Herrschaft...), Horlemann Verlag, 2004. - Ich verwendete die inhaltlich identische Internetversion (alte Rechtschreibung).

Tr: Robert Kurz, Blutige Vernunft (Tabula rasa...), Horlemann Verlag, 2004.

[Die Seitenzahlen der Zitate aus den Essays sind in Klammern z.B. folgendermaßen angegeben: (221 SH), (129 Tr).]

 

 

Im Gedenken an meine Mutter Ruth Hübner

 

Der Mensch ist unrettbar religiös.‹

Nikolai Berdjajew

 

1

[Ich beziehe mich im 1. Teil vorwiegend auf Robert Kurz' Essay "Subjektlose Herrschaft - Zur Aufhebung einer verkürzten Gesellschaftskritik".(Teil2)]

 

Eines der Grundprobleme des Menschen besteht darin, daß er dazu neigt, das Geheimnis des Lebens in den ›Dingen‹ außerhalb seiner selbst zu vermuten, es in ihnen zu suchen und sich von ihnen abhängig zu machen. Dieses Problem findet seinen Ausdruck in der Naturvergötterung, setzt sich fort mit der Menschenvergötterung bis hin zum anthropomorph und soziomorph objektivierten Gott als allmächtiger, absoluter Herrscher - Gott als ein himmlisch-personales Abbild der niederen hierarchischen Herrschaftsverhältnisse in unserer Welt - und gipfelt heute, in der Moderne, in einem gigantischen Maschinenpark, im ›Mythos der Maschine‹ (Mumford), dem sich der Mensch mit selbstverleugnender Schaffenskraft unterwirft. Aus diesem Grunde konnten bisher die Menschen einer schöpferischen Verantwortung im wahrhaft-authentischen Sinne nicht durchgreifend gerecht werden. Sie haben ständig versucht, Verantwortung auf ein hierarchisch höherrangiges Fetisch-Wesen, Fetisch-Ding oder einen höherrangigen Fetisch-Prozeß abzuwälzen - Menschen, Götter, Maschinenordnung, Kapitalsystem. Die Überwindung des modernen Kapital- und Waren-Fetisch stellt sich unter der Bedingung der Verantwortungsübertragung als äußerst schwierig dar, zumal sich die Menschen in den Kernländern des Kapitals an diesen Zustand gewöhnt haben, d.h., dieser Zustand ist in ihnen emotional verankert, suggeriert ihnen Sicherheit und wird deshalb gegebenenfalls leidenschaftlich verteidigt und wiederhergestellt - auch durch sogenannte Reformen, die gleichfalls einer Festigung des scheinbar gottgegebenen Zustandes dienen. Innerhalb der Kapitalakkumulation existiert auf allen Ebenen eine große Unverantwortung, auch wenn Politiker indoktrinativ an die ›Verantwortung‹ eines jeden einzelnen im Sinne der modernen Demokratie appellieren. Doch die binnenkapitalistische ›Verantwortung‹ steht in jedem Fall in einem verbrecherischen Gesamtzusammenhang, unter der Fuchtel der kapitalistischen Rationalität und Irrationalität, und ist immer schon im hohen Maße Verantwortungslosigkeit. Denn Verantwortung ist ganz allein vom Menschen abhängig, von seiner Fähigkeit, schöpferisch handeln, schaffen, verändern zu können auf der Grundlage einer ganzheitlich-authentischen Menschlichkeit, aus der heraus das Verhältnis zur Welt überhaupt gemeinschaftlich-liebend hergestellt werden kann. Doch wenn man heutzutage auch nur ansatzweise an die Bedeutung der Liebe für ein besseres, gerechteres Leben erinnert, erntet man dafür in der Regel nur ein geringschätziges Lächeln bis hin zum Spott, wodurch auf die religiös-sentimentale Abwegigkeit des Gedankens, daß die Liebe die grundlegende Kraft einer gemeinschaftlichen Gesellschaft zu sein hätte, verwiesen werden soll, ein Gedanke, der demnach gerade mal für eine Kirchenpredigt zur Seelenmassage der Glaubens-›gemeinschaft‹ taugt. Für mich ist das ein sehr trauriger Umstand, der einer unerträglichen Profanierung der Liebe durch eine veräußerlichte Lebensweise geschuldet ist, wodurch auch die philosophische Auseinandersetzung mit der existentiellen Realität des Menschen erschwert und verhindert wird.

Ausgehend vom Gedanken einer ursprünglichen existentiellen Realität als eines subjektiven Prozesses, zu dem unter anderem die Liebe wesentlich gehört, gerate ich jedoch auch in Konflikt mit Robert Kurz' "radikaler Kritik", für die erst

"mit der emanzipatorischen Aufhebung des Subjekts" eine "Revolution gegen die Fetisch-Konstitution" (221 SH)

möglich wird. Obwohl ich ansonsten die Schärfe der Kritik von Kurz gegen die Warengesellschaft sehr schätze, sehr anregend finde und überhaupt für sehr wichtig halte, kann ich mich mit einer "Aufhebung des Subjekts" nicht einverstanden erklären.

"... die... subjektiv-soziologistische Vorstellung von Herrschaft... ist tief im westlichen Aufklärungsdenken überhaupt verankert, das 'Subjektivität' prinzipiell als abstrakte und apriorische setzt. Alle gesellschaftlichen Verhältnisse sollen und müssen in irgendeiner Weise aus diesem nachgerade chimärischen Subjekt abgeleitet werden, das Ausgangs- und Endpunkt aller Analysen bleibt." (168 SH)

"... in den modernsten Versuchen des Strukturalismus, des Strukturfunktionalismus und der Systemtheorie... Die systematische Subjektlosigkeit wurde hier endlich offen thematisiert... Ausgehend von strukturalen Sprachanalysen der Linguistik setzte sich der Gedanke durch: Nicht das Subjekt und nicht die Praxis von Subjekten sind konstitutiv, sondern subjektlose 'Strukturen', in denen und anhand derer sich das jeweilige Handeln konstituiert. Nicht der Mensch (das menschliche Subjekt) spricht, sondern 'die Sprache spricht'. Oder, sarkastisch ausgedrückt: der Mensch 'wird gesprochen'." (169 SH)

"Wenn der Mensch nicht spricht, sondern 'gesprochen wird', dann denkt er auch nicht, sondern 'wird gedacht'; dann handelt er nicht sozial, politisch oder ökonomisch, sondern 'wird gehandelt' usw. Es wurde also nichts geringes als der Tod des Subjekts verkündet." (170 SH)

"Tatsächlich läßt sich der tiefe Wahrheitsgehalt der Begriffe von 'Systemen', 'Strukturen' und 'Prozessen' ohne Subjekt angesichts der beobachtbaren Empirie spätmoderner oder 'postmoderner' bürgerlicher Verhältnisse kaum noch bestreiten. Strukturalismus und Systemtheorie sagen nur, was wirklich der Fall ist, d.h. was real erscheint. Die humanistischen und aufklärerischen Subjektideologen, den Marxismus eingeschlossen, bestreiten den 'Fall' zwar oberflächlich nicht, wollen ihn aber kritisieren. Ihr Standpunkt dabei ist jedoch ein prekärer. Denn sie müssen ein apriorisches Subjekt annehmen, das 'vergessen' hat, daß es ein solches ist und was es getan hat. Die Leier dieses Subjektbegriffs spielt ewig dasselbe Lied: Es müsse ein verloren gegangenes Bewußtsein von der subjektiven Gemachtheit der Gesellschaftsprozesse wiederhergestellt werden. Das ist eigentlich plattester Rousseauismus, pures 18. Jahrhundert, und mit den Ergebnissen moderner Einzelwissenschaften und den terms der Marxschen Ökonomiekritik nur äußerlich und notdürftig angereichert. Das Aufklärungsdenken kann sich die 'Gemachtheit' von 'Etwas' grundsätzlich nicht ohne ein präexistentes Subjekt dieses Machens vorstellen; ein subjektloses Machen ist ihm nicht nur Greuel, sondern auch logische Unmöglichkeit. Daß hier in der bestehenden Gesellschaft etwas nicht stimmt, ist ihm (zumal in seiner marxistischen Variante) zwar irgendwie bewußt; aber es muß sich dann eben um einen 'Fehler' handeln, der seinerseits wieder subjektiv verursacht worden ist, nämlich durch den 'Willen zur Ausbeutung' oder den 'Willen zur Macht' der Herrschenden. Die starken Argumente von Strukturalismus und Systemtheorie laufen demgegenüber darauf hinaus, daß die Annahme dieses vergeßlichen apriorischen Subjekts haltlose 'Metaphysik' ist, daß dieses Subjekt nie existiert hat und logisch gar nicht existieren kann." (178/179 SH)

Gerade die personalistische bzw. existentielle Philosophie von Nikolai Berdjajew hat überzeugend aufzeigen können, daß das Subjekt als kultur- und geistesschaffendes immer primär ist, ohne dabei das damit in Verbindung stehende sekundäre Wechselspiel von Freiheit und Notwendigkeit, von relativer Subjektivität und korrelativer Objektivität, von Herrschaft und Knechtschaft aus dem Blickfeld zu verlieren und so eine auch im logischen Gesamtzusammenhang überzeugende Antwort zu geben.

Systemtheorie bedeutet den Verzicht auf eine tiefgründige Auseinandersetzung sowohl mit den existentiellen Phänomenen der Liebe, Wahrheit, Freiheit, des Gewissen, dem Leiden und Mitleiden, der Freude, der Hoffnung, dem Mut, der Angst, dem Zorn, der Wut, der Sympathie und Antipathie als auch mit dem Groll, dem Haß, dem Neid, der Gier, der Rache, der Sucht usw. - Wesenseigenschaften/-kräfte des Menschen, die quasi als untergeordnete Funktionen im System mehr oder weniger verschwinden. Sogesehen ist Systemtheorie durchaus in sich stimmig und der Mensch letztlich nicht die entscheidende Frage. Alles findet seine funktionale Erklärung. Nur, der Mensch lebt fortlaufend aus seinen existentiellen Wesenseigenschaften/-kräften heraus und kann Fragen aufwerfen, die grundsätzlich anders, außersystematisch motiviert sind und entsprechend fortlaufend existenzrückbezüglich beantwortet werden müssen. Systematisch-analytisches Denken spielt hierbei immer eine wichtige, aber dennoch nur sekundär-praktische Rolle, z.B. in philosophischen/theoretischen Erörterungen oder für die Organisation entsprechend subsistenzschaffender Vorgänge etc., die wiederum auf die existentiellen Motivationen zurückwirken und deren schöpferisches Potential herausfordern. Existenzrückbezüglich meint, daß die existentielle Erkenntnis des subjektiv wahrgenommenen Ichs, welche mit den Wesenskräften des Menschen einhergeht, eine ursprüngliche ist. Existentielle Erkenntnis des Ichs, die wesentlich die Existenz des anderen als personal-subjektive, zugleich aber auch eine objektiviert-gegenständliche Welt voraussetzt, ergibt sich spontan-schöpferisch, plötzlich, aus dem Nichts heraus - da konkret einzigartig und deshalb absolut neuartig -, baut eine ursprünglich-geistige Beziehung zu sich selbst und gleichzeitig zur Welt auf, wertet sich selbst und die Welt primär intuitiv im Verbund mit den eingebundenen Verstandeskräften im Akt des ursprünglichen Transzendierens. Der Mensch lebt aus der existentiellen Erkenntnis heraus, um die Welt und sich selbst letztlich mehr oder weniger im Sinne eines ebenfalls existentiell erlebten und zu verwirklichenden Wahrheitsverlangen verändern zu können. Dies alles ist vor allem auch ein geschichtlicher Prozeß. Der Mensch trägt seit seinem Erscheinen den Funken der Wahrheit als ein ganzheitliches Erleben seiner freiheitlichen, gemeinschaftsbezogenen Persönlichkeit in sich, auch wenn die Persönlichkeit anfänglich noch sehr schwach ausgebildet war; er muß sie jedoch fortlaufend realisierend erweitern und verteidigen gegen eine zum Chaos neigende Welt der Trägheit, Starre und Notwendigkeit, aber auch der Illusionen und Verführungen, thronender und verschlingender Göttergestalten unterschiedlichster Art, wozu auch in subtiler Weise die Ware etc. zählt, um existentiell überhaupt existieren bzw. weiterexistieren zu können. Es sei hier aber relativierend bemerkt, daß die Welt sowohl einen tendenziell erstarrenden, chaotischen, entwürdigenden als auch einen in ihrer Dynamik beständigen, verläßlichen, schutzgewährenden, würdevollen Charakter annehmen kann. Letzteres stellt für den Menschen ein hohes und schöpferisch zu bewahrendes Gut dar, auf deren Grundlage nur er sich wahrhaft verwirklichen kann.

Mit der Systemtheorie entscheiden wir uns für eine Auseinandersetzung im Sinne eines nichtmenschlichen Anpassungs- und Funktionsverhalten. Mit einer auf die authentische, aber auch widersprüchliche und immer wieder zur Entfremdung neigende menschlich-subjektive Existenz ausgerichtete Philosophie/Theorie entscheiden wir uns für die im weitesten Sinne zu erringende existentielle Liebe, Wahrheit und Freiheit der Persönlichkeit und der aus ihr entspringenden echten Gemeinschaft zugleich. R. Kurz jedoch beschreitet einen Weg, der sowohl Systemtheorie als auch Subjektphilosophie jeglicher Art kritisch negierend hinter sich lassen will - Systemtheorie als eine rein affirmative Beschreibung der "subjektlosen Konstitution" der Moderne durch das autopoietische System, Subjektphilosophie als ein generell affirmatives Festhalten an einem wie auch immer gearteten "aufklärerischen Subjekt".

"Die Leier dieses Subjektbegriffs spielt ewig dasselbe Lied: Es müsse ein verloren gegangenes Bewußtsein von der subjektiven Gemachtheit der Gesellschaftsprozesse wiederhergestellt werden. Das ist eigentlich plattester Rousseauismus, pures 18. Jahrhundert...". (178 SH)

Nein, es muß ein wahrhaft menschliches, fetischfreies Selbstbewußtsein errungen werden, das in der Geschichte bisher immer nur vereinzelt und in Momenten von Menschen erlangt wurde. Dieses Selbstbewußtsein ist an eine intuitiv-schöpferische Überwindung der niederen menschlichen Wesenseigenschaften/-kräfte gebunden wie des ambivalenten Hasses, der Gier, der mitleidlosen Rache, der Sucht nach allen möglichen Kompensationen, des Egozentrismus u.a.m. Und die Überwindung verlangt im Leben eine ständige Vertiefung und Vervollkommnung der Persönlichkeit. Mit Rousseauismus hat dies nichts zu tun, obwohl vom Subjekt als Träger der gemeinschaftlichen Persönlichkeit ausgegangen wird. Dabei wird der Mensch im Prozeß gesehen und nicht als ein von vornherein schon vollkommen befreites, gütiges Wesen. Die existentielle Subjektkritik richtet sich vor allem gegen ein starres und deshalb zum Chaos neigendes, fetischorientiertes Subjekt und stellt diesem ein ganzheitlich-dynamisch-authentisches, fetischfreies Persönlichkeitssubjekt gegenüber, das sich seit urgeschichtlichen Zeiten herauszuschälen begann, um das die Menschen mehr oder/und weniger bis heute ringen. Aber auf den urchristlichen Ruf nach Freiheit, Liebe und Wahrheit im Leben, der - wenn auch schwach - dem Menschen seit seinem Erscheinen schon immer wesentlich war, fand weder das historische Christentum noch die Moderne noch irgendeine andere Vormoderne eine annähernd adäquate Antwort, die eng mit der Lösung der Frage nach einer schöpferisch zu gestaltenden sozialen Gerechtigkeit verbunden ist. Bis heute hat die Menschheit im großen und ganzen versagt, weil sie es nicht vermochte, die personal-existentielle Problematik mit einer sozial-gemeinschaftlichen schöpferisch zu verknüpfen. Gerade in der sogenannten Moderne gerät die Persönlichkeit in Gefahr. Die Menschen erstarren ehrfürchtig vor ihren gewaltigen kulturellen und technischen Erschaffungen, die vergötzt den einzelnen verschwinden lassen. Die gemeinschaftliche Persönlichkeit findet sich in einer auf die Dinge (sekundäre Subjekt-Objekt-Spaltung) gerichteten Welt nicht wieder und verliert sich in einem Zersetzungsprozeß. Die Gesellschaft fordert systematische, allgemeinverbindliche Anpassung im Sinne des Mammons, wonach sich der Mensch der Moderne ebenbildlich ausrichtet. Dieser System-Mammon-Mensch handelt im höchsten Maße unethisch. Und er ist sich dessen in Momenten auch immer wieder bewußt, geschuldet einem ethischen Grundempfinden, einer ethischen Grundintuition. Doch er verdrängt diese Momente sofort wieder, damit er nicht zu sehr über die Zweifel an den allgemeinen Verhältnissen vor allem in Selbstzweifel stürzt, die er angesichts des sich auftuenden Abgrundes - Chaos, Angst, Mutlosigkeit - nicht ertragen will. Das Selbst kann sich im starken Maße als eine zurechtgelegte, objektivierte, angepaßte Lüge entpuppen, das sich im Dienste am Götzen von seinem authentischen Ursprung, seinen authentischen Intuitionen, seinem originären Gewissen abwendet und entfernt. Mit der Zeit vermischt sich das authentische Selbst mit einem Rollen-Selbst, wird dabei systematisch im wahrsten Sinne des Wortes bis zur satanisch anmutenden Unkenntlichkeit gespalten und zersetzt (siehe dazu auch R. Kurz in: Tr, Hannibal Lecter oder die "Potenz" der Distanzfähigkeit, S. 129 ff). Das authentische Selbst kann jedoch nicht restlos zerstört werden, denn das würde bedeuten, daß das Entstehen von absolut bösartigen ›Menschen‹ möglich wäre, was sich jedoch nicht bestätigen und in keiner Weise rechtfertigen läßt. Ein Funken wahre Authentizität bleibt jedem Menschen immer erhalten, solange er lebt. In der Tiefe, dort, wo es kein Rollen-Selbst geben kann, bleibt der Mensch stets authentische Persönlichkeit, und wenn sie auch noch so schwach ist. Jeder Mensch ist zur Wahrheit berufen, auch wenn er sie im Leben verfehlt oder gar verrät. (Ein diesbezüglich kritisches Denken wurde von Berdjajew in einzigartiger Weise eröffnet.)

 

"Tatsächlich läßt sich der tiefe Wahrheitsgehalt der Begriffe von 'Systemen', 'Strukturen' und 'Prozessen' ohne Subjekt angesichts der beobachtbaren Empirie spätmoderner oder 'postmoderner' bürgerlicher Verhältnisse kaum noch bestreiten. Strukturalismus und Systemtheorie sagen nur, was wirklich der Fall ist, d.h. was real erscheint." (178 SH)

Aber ohne Subjekt, welches aktiv das gesellschaftlich-soziale oder unsoziale System verinnerlicht, funktioniert auch kein gesellschaftlich-soziales oder unsoziales System. Schöpferische Kräfte dienen der Systemerhaltung und -erweiterung, werden zum unterstützenden Teil dieses Systems. Es gibt somit ein fremdbestimmtes Systemsubjekt - der Mensch als mehr oder weniger fetischorientiertes Wesen. Der Mensch kann den mechanischen, funktionsbestimmten Fluß der Dinge liebgewinnen, verehren und mit seiner Schöpferkraft befördern, wobei auch heute noch die entsprechenden hierarchisch-autoritären Herrschafts- und Machtverhältnisse eher als ein verhängtes Schicksal hingenommen werden, an denen man nicht rühren darf, da sie ja für die Funktion des Systems scheinbar unabdingbar sind und mit ihrer Infragestellung die Gefahr droht, daß die ›Ordnung‹ den Bach runtergeht. Der ursprünglich-existentielle Glaube an die göttlich-menschliche Wahrheitsintuition kann zugunsten eines Systemglaubens fast vollständig verleugnet werden. Begünstigt wird dieser Prozeß der Verleugnung durch die systemkonforme Stärkung niederer menschlicher Wesenseigenschaften/-kräfte (Haß, Rache, Sucht, Neid etc.), d.h. vor allem durch die partielle Zersetzung des Persönlichkeitssubjekts. Die Zersetzung des Persönlichkeitssubjekts führt insbesondere dazu, daß z.B. das rationale Vermögen des Menschen - teilweise losgebunden -  in den Dienst des Systemdenkens und des korrelierenden Machtdenkens gestellt werden kann, zuweilen angereichert durch bindungsstarke götzendienerische Emotionen im Einklang mit den besagten niederen menschlichen Wesenskräften. Durch das Schwinden des ganzheitlichen Persönlichkeitszusammenhalts entwickeln die Instinkte und Triebe ein zentrifugales chaotisches Eigenleben, das zuweilen in Exzessen ausgelebt wird. Doch in Anlehnung an das System und in tiefer Angst vor Unordnung und Chaos neigt der Mensch dazu, seine Gefühle, Triebe, Instinkte zu verdrängen, zu verstecken, um in einer Art mehr oder weniger arroganten rationalen Abgeklärtheit das alltäglich-abstrakte Leben meistern zu können. Mehr und mehr entsteht so ein im Kern unsicherer, von Minderwertigkeitskomplexen geplagter Mensch, welche aus seinem Verlust an ganzheitlicher Integrität resultieren. Er gerät schnell in den Sog entsprechend aufgestauter Ressentiments, die dann gegebenenfalls an irgendwelchen beliebigen Opfern ausgelassen werden. In der Masse von Gleichgesinnten dagegen, die ihm ein Gefühl von allgemeiner angepaßter ›Integrität‹ vermittelt, fühlt er sich sicher, strotzt mitunter vor ›Selbstbewußtsein‹. Der gespaltene, mit sich selbst im unreinen befindliche Mensch neigt ständig zu Extremen. So kann er vor allem auch an einer ebenfalls losgebundenen kompensatorischen Sucht nach Sexualität leiden, mittels der er nur momentane Ersatzbefriedigung erheischen kann, da sie nicht zur Fülle des Lebens führt. Es gibt eine destruktive, auf niedere bis perverse Teilbedürfnisse fixierte, und eine sublimierte, auf den ganzen, auf den geistigen Menschen gerichtete Sexualität. Auf Genuß orientierte Sexualität ist eher ein selbstsüchtiger Akt, der sich stark auf die physisch-sinnliche Befriedigung reduziert. Im ganzheitlichen Akt der Liebe zweier Menschen dagegen, wird der sexuelle Akt zu einem tiefen geistigen Erleben intimer Vereinigung, höchster Nähe und Zärtlichkeit in den sich begegnenden Persönlichkeiten erhoben. Das setzt aber voraus, daß der Mensch seine persönlich-schöpferische Integrität nicht verliert, daß er existentiell-ganzheitliches Persönlichkeitssubjekt ist und bleibt.

Integrales, selbstbestimmtes oder destruktives, fremdbestimmtes Subjekt sind sowohl für die eine als auch andere Gestaltung des Lebens immer notwendig vorhanden. Die Behauptung "eines subjektlosen Machens" bringt zwar eine spezifische Tendenz der destruktiven kapitalistischen Verhältnisse zum Ausdruck, ist aber bezogen auf die Ursachen des sich dynamisch entwickelnden Kapitalismus irreführend. Real ist jedes Machen an schöpferische Kräfte des Menschen gebunden, sind sie auch noch so gering bzw. nur beiläufig. Des Menschen schöpferische Kräfte sind subjektiv-geistiger ›Natur‹ und jedem Subjekt-Objekt-Dualismus vorgelagert. Jede auszuführende rein mechanisch-abstrakte, systemfetischbedingte bzw. systemfetischerhaltende Arbeit ist zumindest davon abhängig, daß ein Minimum an schöpferischen Kräfte im arbeitenden Menschen vorhanden sind, die ihn zunächst zum Leben oder wenigstens zum Überleben und schließlich zum Funktionieren motivieren, so daß er auf dieser Grundlage für den unschöpferischen Verwertungsprozeß brauchbar ist und bleibt. Selbst wenn ein Mensch völlig entleert vom fetischorientierten Arbeiten lebensmüde wird, der Akt des Handanlegens an sich selbst bleibt wesentlich auch dann ein Drama der Überwindung der letzten inneren Hoffnung, des letzten inneren Lebensfunken, welcher vom existentiellen Sinnbedürfnis des Menschen zeugt. Natürlich kann der Mensch den Sinn fortlaufend entäußern. Das hat er durch Schaffung von Fetischen auch getan. Und dennoch bleibt das existentielle Sinnbedürfnis primär vorhanden. Dies gilt auch für den nahezu sinnentleert agierenden Selbstmord-Attentäter. Für alle gesellschaftlich-sozialen Verhältnisse, die vom Menschen geschaffen wurden, ist der Mensch als ein mehr oder weniger selbstbewußtes, existentiell-schöpferisches Subjekt vonnöten (welches auch massiv destruktiv orientiert sein kann und sein emotionales und schöpferisches Potential entsprechend einbindet). Wer dies abschreitet, der behauptet die Existenz einer allgemeinen, absoluten Unfreiheit in der Welt und in der Persönlichkeit zugleich, ein Zustand, der in keiner Weise durch das Leben im weitesten Sinne bestätigt wird. Das Theoretisieren über von Menschen subjektlos geschaffene Gesellschaftssysteme (Oder haben sie sich absurder Weise etwa ›listig‹ [Hegel] selbst geschaffen?) ist ein Unding und führt zu Illusionen, selbst wenn R. Kurz davon ausgeht, daß der Grund für das "subjektlose Machen" keine anonyme Systemherrschaft, sondern im sogenannten "Dritten", im Unbewußten zu suchen ist als

"blinde Form-Konstitution des Bewußtseins", die "Subjektivität, Objektivität und Herrschaft konstituiert". (193 SH)

Diese Art "Konstitution" stellt eine die Freiheit des Menschen im Schaffen absolut ausschließende Tatsache dar. Deshalb auch Kurz' Forderung, zusammen mit der "blinden Form-Konstitution des Bewußtseins" das Subjekt abzuschaffen, eine Forderung, die immer nur das relative fetischverhaftete Subjekt im Verhältnis zum korrelativen Objekt voraussetzt und nicht die Möglichkeit der Existenz des Subjekts als ganzheitliche Persönlichkeit anerkennt. Das Schaffen ist ein emotional-schöpferischer Prozeß, auch dann, wenn dabei ein Moloch entsteht. Das menschliche Schaffen ist primär ein subjektives Schaffen.

"Das Aufklärungsdenken kann sich die 'Gemachtheit' von 'Etwas' grundsätzlich nicht ohne ein präexistentes Subjekt dieses Machens vorstellen; ein subjektloses Machen ist ihm nicht nur Greuel, sondern auch logische Unmöglichkeit." (178 SH)

Es sei hier dahingestellt, was sich ein "Aufklärungsdenken" unter einem "präexistenten Subjekt" vorstellt. Aber ein "subjektloses Machen" z.B. ökonomisch-kultureller bzw. gesellschaftlich-sozialer Verhältnisse impliziert eine völlige Abhängigkeit von einer nicht chronologisch, sondern hierarchisch höherstehenden präexistenten "Form-Konstitution" als eine Art Göttlichkeit. Diese Aussage wird quasi von Kurz selber unterstützt:

"... 'Zweite Natur' meint, daß sich die Gesellschaftlichkeit der Menschen, die ihr Wesen ausmacht, analog zur ersten Natur als ein ihnen selber äußerliches, fremdes, nicht subjektiv integriertes (und der immanenten Reflexion nicht zugängliches) Wesen konstituiert und darstellt. Es handelt sich in der Tat um eine subjektlose Konstitution, zwar durch das Handeln und Machen der Menschen hindurch, das aber dabei lediglich als Funktion eines subjektlosen Prozesses wirkt - ganz wie es die Diktion der Systemtheorie verlangt." (182 SH)

Kurz' Forderung nach "Aufhebung des Subjekts" resultiert aus einer monistisch eingeengten Mißdeutung der existentiellen Realität des Subjekts. Nach der "Aufhebung des Subjekts" soll alles von den "Inhalten" selber ausgehen - wie auch immer-, die dann nicht mehr über den Umweg einer "Fetisch-Form" (204/205 SH) verfälscht werden. Das, was Kurz als

"sinnlichen Inhalt des Reichtums" (155 SH), "sinnlichen Bedürfnisinhalt" (155 SH), "Inhalte des Bewußtseins" (218 SH) etc.

bezeichnet, stellt jedoch laut Kurz dabei

"keinen apriorischen positiven Maßstab" (129 Tr)

dar. Wenn man den Begriff ›apriorisch‹ grundsätzlicher in der Bedeutung ›vom Früheren her‹ begreift und ihn nicht im kantischen Sinne auf abstrakte Kategorien, auf die Bedeutung ›allein durch Denken gewonnen‹ reduziert, so dürfte es gemäß Kurz' auch keinen ursprünglichen Wesensinhalt des Bewußtseins geben - Liebe, Freiheit, Gewissen etc. können dann entweder nur Epiphänomene oder Ergebnisse und keine existentiellen Bedingungen historisch-gesellschaftlicher Entwicklung sein. Wenn ich sage, daß das gesellschaftlich-soziale Handeln immer an einen existentiell-subjektiven Handlungsträger gebunden ist, setze ich nicht automatisch voraus, daß dann alle Motive und Anregungen des Handelns einseitig monistisch im Subjekt gründen, sondern ich behaupte lediglich, daß dieses Subjekt die Freiheit hat, die Welt entgegen der vorgezeichneten Bahnen zu verändern. Die Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung kann nur subjektiv-geistig-gemeinschaftlich gelingen und hat zur Voraussetzung, daß jeder Mensch als subjektives Wesen einen existenzdialektisch-verbindenden Geist des Göttlichen und Menschlichen in sich lebendig hält und diesen liebend, transzendierend in die Welt hineinträgt (weiterführend verweise ich in diesem Zusammenhang insbesondere auf das Buch "Existentielle Dialektik des Göttlichen und Menschlichen" von N. Berdjajew). Und dennoch wird ein Teil unseres Lebens ständig, real-praktisch, immer wieder auch von einer Welt der Objekte in Anspruch genommen. Das heißt, nicht alles ist "subjektiv verursacht". Wir Menschen schaffen auch neuartige Dinge, aber wir müssen in diesem Schaffensprozeß auf schon Vorhandenes zurückgreifen, das eine bestimmte Realitätsstufe der Freiheit ausdrückt, die wir Menschen als solche immer schon vorfinden, z.B. die Natur, aber auch gesellschaftlich-materielle Verhältnisse, in die wir hineingeboren werden etc. Aber das, was wir vorfinden, können wir verändern, und das, was wir in und an den Dingen noch nicht vorfinden, können wir schöpferisch in sie hineintragen unter Berücksichtigung der vorgefundenen Strukturen, die dabei verändert werden. Hinsichtlich radikaler Gesellschaftskritik kann man daher sagen, daß der

"Wille zur Ausbeutung" oder der "Wille zur Macht" (179 SH)

keinen absoluten subjektiv-selbstherrlichen Ambitionen entspringt, sondern auch einer fetischkonstituierten Welt zugeordnet ist und dieser dient. Die eigentliche Schwäche des Menschen liegt in seiner Anpassung z.B. an eine am mehr oder weniger subtilen Macht- und Gewaltstreben ausgerichtete Welt, die wirkliche Stärke im subjektiv-geistigen, aber zugleich auch praktischen Widerstehen gegenüber fetischkonstituierten Umständen/Strukturen und Prozessen äußerlicher und geistig-verinnerlichter Art.

Eine radikal "negatorische" Kritik, die die Überwindung des Fetisch-System und des Subjekts zugleich anstrebt, ist nicht möglich. Der Mensch als außer- bzw. übersystematischer schöpferisch-ethischer Ausgangspunkt bleibt immer unverzichtbar, wenn es im Sinne einer wahrhaft freien Gemeinschaft um Veränderungen geht. Was hätte die Welt für einen Sinn, wenn dieser sich nicht subjektiv im Menschen offenbaren würde? Natürlich kann der Mensch auch einen ›Sinn‹ anbeten, der niederen Motiven und Ängsten, z.B. einem kleinbürgerlichen funktionsorientierten Kontroll- und Sicherheitsbedürfnis entspringt, welches dann in einem Fetischobjekt oder -system seinen Halt findet und dieses befördert. Damit das Fetisch-System in Gang bleibt und weiterläuft, muß der Mensch ihm schöpferische Kräfte zukommen lassen. Und der Mensch bindet sich emotional an den Fetisch und kämpft für seinen Glauben auch auf die Gefahr hin, mitsamt des Fetischs dabei unterzugehen. Es kommt also darauf an, daß der Mensch seine authentischen, ethischen Kräfte stärkt, daß er seine gemeinschaftliche Persönlichkeit verwirklicht, um die anerzogene, angenommene "Fetisch-Konstitution" überwinden zu können, die ich - genauer betrachtet - innerhalb des subjektiven Bereichs primär für eine Fetisch-Orientierung halte und mit einem Bewußtsein hergestellt wird, das sekundär eine entsprechende "Form-Konstitution" annimmt. Die sogenannte "Form-Konstitution" ist die Folge einer fetischorientierten Schwächung der Persönlichkeit. Die Fetisch-Orientierung ist eine relative und kann durch Stärkung der gemeinschaftlichen Persönlichkeit überwunden werden. Die Fetisch-Orientierung an sich entsteht durch die Einengung des Bewußtseins auf eine alles korrumpierende Verabsolutierung einer dafür besonders geeigneten innermenschlichen Fähigkeit/Eigenschaft/Kraft (z.B. die Rationalität, die Sexualität etc.) oder eines äußeren Prozesses (Kapitalismus) oder Gegenstands, wonach sich partiell die Bewußtseinskräfte/-inhalte relativ abhängig, formkonstitutiv ausrichten; dabei treten besonders die destruktiven Wesenskräfte hervor. Real stellt sich die Fetisch-Orientierung als eine Verbindung der dafür prädestinierten innermenschlichen Eigenschaften/Kräfte mit äußeren Prozessen oder Objekten dar - entsprechend der obigen Beispiele ergänzen sich insbesondere verengte Rationalität und Kapitalismus, verengte Sexualität und Sexobjekt. Die formkonstitutive Ausrichtung ist nicht absolut, denn die persönlichkeitsbezogenen inneren Wesenskräfte, und zwar die schöpferisch-ethischen, bleiben im subjektiven Kern des Menschen in ihrer Ursprünglichkeit immer erhalten, wenn auch zuweilen nur äußerst schwach. Zu diesen Kräften zählen grundsätzlich vor allem die Liebe und die in ihr wirkende schöpferische Freiheit, das originäre Gewissen, die Leidensfähigkeit, echtes Mitgefühl und Mitleid, die Hoffnung - transzendierende Kräfte, die in ihrer Gesamtheit den Persönlichkeitskern, die authentische Wahrheit des Ich-Subjekts in seiner Tiefe ausmachen. Deshalb trägt wesentlich jeder Mensch das echte Potential zur Überwindung der Fetisch-Orientierung in sich, so daß er jederzeit den Ausstieg beginnen, wagen kann, primär geistig, erkenntnismäßig, was auch praktische Folgen hätte - wenn auch noch so gering. Und je mehr Menschen den Ausstieg wagen, desto wahrscheinlicher die Möglichkeit eines Gesellschaftswandels. Doch leider scheint das authentische Potential in den sicherheitsbedürftigen kleinbürgerlichen ›Westmenschen‹ derzeit sehr schwach entwickelt zu sein. Hier hat die kapitalistische Normalität, das kapitalistische Kompensationssystem ganze abstrakte Arbeit geleistet. Und was soll erst ein stark fetischorientierter Mensch in einer zusammengebrochenen Warengesellschaft anfangen? Versucht er nicht alles zu tun, um das gewohnte ›Leben‹ wieder herzustellen: abstrakt Handel treiben, Waren produzieren, verkaufen und konsumieren? Warum sollte es nach einem Zusammenbruch und einer längeren chaotischen Zwischenzeit prinzipiell nicht wieder so werden, wie bisher - zunächst halt auf einem primitiveren und noch rigideren Niveau? Das war nach den großen Kriegen im letzten Jahrhundert prinzipiell doch ähnlich, und in der sogenannten Dritten Welt vollzieht es sich täglich in mörderisch-erschreckender Weise. Wie sich die Menschen in entsprechenden Grenzsituationen verhalten werden, das ist vor allem auch eine Frage der Höhe ihres Bewußtseins, welches von der Realisierung des schöpferisch-ethischen Persönlichkeitssubjekts abhängt, von dem wiederum das Bewußtsein ganzheitlich erfüllt wird. Und manchmal staunt man, was in Grenzsituationen an echten umwandelnden Kräften im Menschen freigesetzt werden kann. Da werden Waren schon mal schnell zur absoluten Nebensächlichkeit. Die Hoffnung bleibt.

"Der Mensch tritt aus der ersten Natur heraus (und damit ihr gegenüber, obwohl er Teil von ihr bleibt), indem er vom Instinkt der Tiere entkoppelt wird. Er ist das instinktlose Tier (hier liegt jedenfalls das Wahrheitsmoment der Theorie von Arnold Gehlen). Damit aber ist die Notwendigkeit von Bewußtheit gesetzt, als Subjektivität gegenüber der ersten Natur. Was den schlechtesten Baumeister von der besten Biene unterscheidet, sagt bekanntlich Marx, ist die Tatsache, daß seine Konstruktion vorher durch seinen Kopf hindurchgehen muß. Der Mensch tritt so der ersten Natur als Subjekt gegenüber, aber er kann dies nur als Mensch, d.h. als gesellschaftliches Wesen. Als dieses gesellschaftliche Wesen jedoch wird er seinerseits subjektlos konstituiert, eben als subjektlose Konstitution zweiter Ordnung. Damit ist nichts weiter gesagt, als daß der Mensch sich weder unmittelbar als gesellschaftliches Subjekt selbst geschaffen hat noch von einem Gott-Subjekt geschaffen wurde, sondern als entkoppeltes Tier nur subjektlos entstehen konnte. Er entsteht als Subjekt gegenüber der ersten Natur, weiß aber notwendigerweise selber nicht, wer er ist, weiß und hat sich nicht bewußt als das, was er geworden ist, nämlich gesellschaftliches Wesen oder Naturwesen zweiter Ordnung." (183 SH)

Also zwischen Biene und hochentwickelten, bereits ansatzweise personalen Tieren bestehen gewaltige Unterschiede. Z.B. bei Affen oder Elefanten läßt sich sehr wohl ein mehr oder weniger schwaches Selbstbewußtsein und eine subjektive Wahrnehmung vermuten. Daß der Mensch "vom Instinkt der Tiere entkoppelt wird" heißt somit, daß das schwache Subjekt zu einem relativ viel stärkerem fortgeschritten sein muß. Und ohne dieses personale Subjekt würde gesellschaftliche Subjektivität in der Luft hängen. Der Begriff "gesellschaftliches Subjekt" ist völlig unklar. Man könnte interpretieren, daß das personalbewußte Subjekt auch einen gesellschaftlichen Bezug in sich integriert. Doch Kurz spricht hier von einem "subjektlos konstituierten" "gesellschaftlichen Subjekt". Was soll das sein? Völlig irre gegangene, irgendwie menschenartige (was den Körperbau angeht) Wesen? Wonach richten diese Wesen ihr gesellschaftliches Subjekt aus, wenn - streng genommen - zunächst nicht einmal die Natur als Maßstab dienen kann? Denn dann wären sie wieder gänzlich naturbestimmte Wesen wie rein triebgesteuerte Tiere. Da spielt es auch keine Rolle, "daß seine [des Menschen - D.H.] Konstruktion vorher durch seinen Kopf hindurchgehen muß". Lernen ist hier nur ein unschöpferisches Abkupfern und kann nichts Entscheidendes zur Befreiung des Menschen von der in diesem Fall naturbestimmten Abhängigkeit beitragen.

"Er entsteht als Subjekt gegenüber der ersten Natur, weiß aber notwendigerweise selber nicht, wer er ist, weiß und hat sich nicht bewußt als das, was er geworden ist, nämlich gesellschaftliches Wesen oder Naturwesen zweiter Ordnung." (183 SH)

Wenn der Mensch auch nicht die geringste Ahnung hat, "wer er ist", wird er auch zu keiner Zeit die Frage stellen können: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Man kann doch nicht ernsthaft davon ausgehen, daß der Mensch zu Beginn einer absolut zwangssolidarischen Bewußtlosigkeit oder gar Selbstvernichtung aufgesessen ist, weil er nicht vermochte, ein - wenn auch äußerst schwaches - subjektiv-existentielles Ich auszusprechen oder zumindest zu fühlen. Wenn auch das Selbstgefühl zu Beginn der Menschheit ein sehr diffuses gewesen sein mag, so ist es dennoch eine der entscheidenden Voraussetzungen der Menschwerdung an sich, bis heute und in alle Zeiten, solange der Mensch überhaupt existieren wird. Denn erst das sich herausschälende Selbst als Persönlichkeitssubjekt befähigt den Menschen zu authentischen, selbstbestimmten Handlungen. Somit sage ich auch, daß ein selbstbestimmtes Handeln des Menschen zu allen Zeiten zumindest im embryonalen Ansatz vorhanden war. Eine "blinde Form-Konstitution des Bewußtseins" ist eine relative, sekundäre Erscheinung, auch wenn sie - z.B. in der Moderne - massiv an Einfluß gewinnt und man den Eindruck bekommt, daß sie uns gänzlich beherrscht. Diese relative "Konstitution" ist jedoch nur so lange "blind", wie das authentische Gewissen erfolgreich zurückgedrängt bzw. minimiert werden kann. In unserer heutigen Zeit können jedoch die Zumutungen dermaßen grausam werden - sowohl gegen die Physis als auch gegen die Seele des Menschen -, daß sich selbst ein schwaches Gewissen, ein schwacher Geist zu Wort zu melden beginnt und protestiert. Ob das jemals zu einer echten gesellschaftlichen Umbruchsstimmung führen wird, ist eine andere Frage.

"Das gesellschaftliche Wesen, da 'entstanden' und nicht geschaffen, kann nur als subjektloses System zweiter Ordnung auftreten. Diese Subjektlosigkeit zweiter Ordnung ist der unvermeidliche Preis für das Subjektwerden gegenüber der unmittelbar natürlichen, biologischen Subjektlosigkeit erster Ordnung." (183 SH)

Damit erübrigt sich nach Kurz auch die Frage: Woher komme ich? Denn mit dieser Frage maße ich mir quasi ein scheinbar authentisches Ich an, das immer nur eine Illusion, ein Fetisch gewesen ist. Das Ich ist demnach real gänzlich fremdbestimmt oder aber, da es Illusion ist, geht es der "radikalen Kritik" darum, darauf hinzuwirken, dem subjektiven Wesen das subjektive Ich zumindest soweit auszutreiben, daß dieses Wesen den "Inhalten" der Gegenstände gemäß handeln kann. Doch damit wird eigentlich nichts gewonnen. Die Fremdbestimmung des Ich-Subjekts seitens eines Fetischs geht in eine Fremdbestimmung des gesellschaftlichen Wesens seitens der "sinnlichen Inhalte" über.

Kurz blendet aus, daß das Ich-Subjekt nur sekundär-praktisch an ein Objekt gebunden ist, was nicht ausschließt, daß das Subjekt dazu übergehen kann, sein Verhältnis zu sich und seiner Umgebung in vorwiegend objektivierender, entfremdender Weise herzustellen. Primär geht das Ich jedoch aus der Tiefe seiner potentiell freiheitlichen Existenz hervor, das innerhalb eines hochkomplexen und vor allem auch tragischen geschichtlichen Prozesses um Liebe und somit um Verwirklichung seiner gemeinschaftsstiftenden Persönlichkeit als realexistierende Wahrheit ringt. Jede Beziehung von Person zu Person ist primär keine Subjekt-Objekt-Beziehung, sondern vollzieht sich von Subjekt zu Subjekt. Es ist eine existentielle Beziehung, die geistig-bewußt grundsätzlich durch transzendierende Liebe innerhalb der mehr oder weniger einander Liebenden realisiert wird. Die liebende Person erfährt die Liebe zum anderen ganzheitlich, d.h., sie realisiert die Liebe in sich persönlich-subjektiv-geistig als eine dreigliedrige freie Gemeinschaft von Ich und Du im Wir. Das tiefe Ich-Subjekt bildet somit die unabdingbare Voraussetzung für die Verwirklichung der Gemeinschaft überhaupt, die wiederum wesentlich nur liebevoll, in Liebe realisiert werden kann. Selbst in unserer heutigen, zur Entpersönlichung tendierenden modernen Zeit kann der Mensch nicht ohne ein Mindestmaß an liebevoller Bindung zu jemand anderem auskommen, auch wenn er diese letztlich zu einem Tier herstellt. Anderweitig wird der Mensch sukzessive vollkommen verrückt, wahnsinnig. Sinngemäß sagt Berdjajew, daß die Persönlichkeit niemals Teil von etwas, sondern ein ganzheitlicher Mikrokosmos und Mikrotheos ist und die Fähigkeit besitzt, die Welt in sich schöpferisch-geistig zu vereinen. Dies geschieht immer konkret individuell-einzigartig. Insbesondere der Mensch, der als Person die mikrokosmische Ganzheitlichkeit in sich umfassend verwirklichen kann, ist für das Gelingen von Gemeinschaft von allerhöchster Bedeutung. Kein anderes Wesen auf Erden, geschweige denn ein sich fortlaufend verlierendes "gesellschaftliches Wesen", ist in der Lage, so umfassend Gemeinschaft realisieren zu können wie der Mensch, weil der Mensch im entscheidenden Maß nicht mehr durch natürliche Zwänge gebunden ist und somit die existentielle Freiheit des Geistes in Wahrheit realisieren und leben kann. Immer spielen hierbei die verstandesmäßigen Kräfte für das Gelingen des integralen Zusammenhalts von Persönlichkeit und Gemeinschaft eine unabdingbar ordnende und praktische Rolle. Der Verstand als vorherrschendes Prinzip dagegen wirkt chaotisierend, weil die Welt eben nicht durch und durch logisch ist. Der Verstand braucht also immer einen Ausgangs- bzw. Bezugspunkt.

Das Leben zeigt, daß die Liebe eines Menschen zu einem anderen Menschen alles andere in der Welt an Bedeutung überragen kann. Deshalb ist Liebe auch gefährlich, weil sie die Welt im geistigen Sinne sprengt, was auch immer praktische Folgen nach sich zieht. Liebe ist tragisch, weil sie die Welt nicht hinnimmt, sondern sich ihr widersetzt und nach Veränderungen drängt, die die Liebe erweitern helfen. Doch Veränderungen gelingen oft nicht im Sinne der Liebe, lassen die Liebe erkalten und erlöschen. Auch wird Liebe erdrückend und zerstörend, will der Mensch mit aller Macht, diktatorisch, die Liebe in die Welt hineintragen, Liebe, die auf diese Weise augenblicklich von mitleidlosem Haß und Fanatismus abgelöst werden kann. Deshalb verlangt die Liebe auch schöpferische Demut, Bescheidenheit und Rücksichtnahme gegenüber den Menschen, die sich vor der Liebe und den damit verbundenen Veränderungen, dem Verlust ihrer partiellen Integrität oder gewohnten Schein-Integrität fürchten. Ohne schöpferische Demut endet die Liebe abrupt. Schöpferische Demut ist aber dennoch nicht eine passiv duldende, mutlose, anpassende Hinnahme dunkler destruktiver Seiten des Menschen und seiner destruktiven Verhältnisse, sondern der Sinn dieser Demut besteht in der Vermeidung einer unerbittlichen Verdammung des sündigen Menschen, zumal ausnahmslos und immer wieder jeder Mensch im Leben mit der Sünde (= Schuld) konfrontiert wird und sich ihr stellen muß, um sie jeweils konkret und letztlich persönlichkeitsstärkend überwinden zu können. Der in Liebe und nicht aus Gehorsam demütige Mensch weiß um die Hartnäckigkeit schlechter und destruktiver Gewohnheiten und Traditionen, weiß, daß der Weg authentischer Selbsterkenntnis zunächst und oft mit bitteren Wahrheiten einhergeht, daß die existentielle Auseinandersetzung mit diesen Wahrheiten mit nahezu unerträglichen Seelenqualen verbunden sein kann und zuweilen, angesichts des jeweils konkreten Ausmaßes innerer und äußerer Destruktivität, kaum noch erbracht werden kann oder auch nicht mehr erbracht werden will. Vor allem die Unfähigkeit zur Selbsterkenntnis bzw. die Abneigung gegenüber authentischer, der Wahrheit ins Auge blickender Selbsterkenntnis bescherte den Menschen unter anderem das sogenannte ›Dritte Reich‹ deutscher Prägung und setzt sich partiell und subtil in der Moderne fort, die versucht, ihre prinzipielle Nähe zum ›Dritten Reich‹ distanzierend von sich zu weisen. Schöpferische Demut der Liebe beinhaltet weiterhin die Einsicht, daß ein Mindestmaß an Zeit und umfassender Besinnung für eine echte Selbsterkenntnis erforderlich ist. Der Mensch der Moderne dagegen flüchtet vor sich selbst, er flüchtet in eine Zukunft, die eine unbewältigte bittere Vergangenheit mit sich herumschleppt und diese prinzipiell unverändert fortsetzt. Die schöpferische Demut der Liebe eröffnet den Menschen die freie Chance, im Sinne einer zu erringenden geistigen Freiheit und Wahrheit zu handeln, ohne von außen dazu genötigt zu werden. Nötigung würde jede Möglichkeit einer zu erringenden Freiheit untergraben. Um im Sinne der zu erringenden geistigen Freiheit und Wahrheit handeln zu können, muß jedem Menschen schon von vornherein schöpferische Freiheit im Denken und Handeln eingeräumt werden, damit auch der Weg zu Veränderungen in der Lebensgestaltung gemeinschaftlich beschritten werden kann. Schöpferische Demut meint, daß sehr wohl kompromißlos und mit aller Schärfe Kritik an den destruktiven Verhältnissen sowohl individuell geistiger als auch gesellschaftlich-sozialer Art geübt wird, jedoch ohne den Menschen an sich dabei zu verdammen und sich selbst dabei über die anderen zu erheben. Hinsichtlich kompromißloser Kritik hat meines Erachtens auch die sogenannte "radikale Kritik" schon sehr wertvolle (geistige und nicht warenwertmäßige) und anregende Arbeit geleistet. Unschöpferisch beharrendes Denken, das unter anderem die krassen sozialen Mißstände in der Welt als etwas Schicksalhaftes, Gottgegebenes oder gar Erhaltenswertes und zu Erweiterndes hinnimmt, gilt es loszuwerden.

Da der Mensch als Persönlichkeit seine Beziehung zu anderen Persönlichkeiten und zur Welt überhaupt aus sich heraus primär-existentiell-schöpferisch vollzieht, ist er primär ein freies Wesen. Diese immanente Freiheit ist sein schöpferischer Impuls, mit dem er sich sowohl in Verbindung mit transzendierenden existentiellen Intuitionen der Wahrheit und Liebe, des Gewissens, des Leidens und Mitleids als auch über Ängste, niedere Triebe und Wünsche, Süchte im weitesten Sinne etc. zur Welt überhaupt in Beziehung setzen kann. Das objektivierte Verhältnis zu einer Welt der Objekte ist immer nur ein sekundäres. Wir können auch Gegenstände unseres täglichen Gebrauchs liebgewinnen. Doch dieses Liebgewinnen ist keine Objektivierung, sondern eine emotionale, aktiv-schöpferisch-existentielle Zuwendung, die die äußerlich-objektivierende Handhabung des Gegenstandes primär begleitet. Die Gefahr besteht hier darin, das der liebgewonnene Gegenstand vom Mensch verabsolutiert bzw. vergötzt wird. Deshalb gilt es, mit "Bewußtheit", die ihrerseits ebenfalls von geistig-schöpferisch-wertenden Intuitionen getragen wird, dieser Gefahr zu widerstehen. Der einzelne Mensch hat ursprünglich ein Gespür für selbstgemachte und nichtselbstgemachte Gefahren, die gegen seine grundsätzliche Integrität gerichtet sind. Doch sobald ich einen anderen Menschen vorrangig als ein Objekt betrachte, gerate ich in den Sog des Narzißmus bzw. in eine autistische Sackgasse. Liebe ist so unmöglich. Der kleinbürgerliche Narzißt ist ein die Liebe entbehrendes, an die Oberfläche geworfenes Wesen, das permanent dazu neigt, im Zuge seines vorrangig objektivierenden Inbeziehungtretens sich der Welt und insbesondere den Menschen gegenüber abzusichern, zu behaupten und durchzusetzen. Narzißmus tritt zwar insbesondere unter den Bedingungen kapitalistischer Verhältnisse auf, aber ohne narzißtische Tendenz im Menschen gäbe es auch keinen Kapitalismus. Die Gründe für die Entstehung kapitalistischer Verhältnisse liegen somit ebenfalls in einer existentiellen Verirrung des Menschen. Damit wird nicht ausgeschlossen, daß der Kapitalismus vor allem auch Systemzwang ist und in seiner historischen Entstehung und Entwicklung von einer zwangsmäßigen Unterwerfung des Menschen in geistiger und praktischer Hinsicht abhängig war, eine Unterwerfung, die der Mensch verinnerlichend auch aktiv-affirmativ vorantrieb. Andererseits haben sich Menschen schon bereits zu Beginn der kapitalistischen Moderne gegen die entsprechende abstrakte Arbeit zur Wehr gesetzt. Der Kapitalismus hat nicht nur eine, sondern komplexe Ursachen.

Kurz behauptet mit der Feststellung: der

"Mensch, d.h. als gesellschaftliches Wesen" (183 SH),

eine Liebe, die aus dem Gesellschafts-Beziehungs-Zwang evolviert. Der Mensch an und für sich wäre demnach zunächst tabula rasa. Ich jedoch glaube an den Menschen, der frei aus sich heraus in ein liebendes Verhältnis zu anderen Menschen treten kann, weil auch ich persönlich zur Welt im weitesten Sinne auf diese Weise Zugang fand. Nun beweise mir jemand, daß mein existentiell freies Leben keines war und ist. Mit anderen Worten: Entweder ich glaube (Glaube als schöpferischer Prozeß, als primäre Wahrheitsintuition) an mich, genauer, ich weiß mich zunehmend als eine gemeinschaftsorientierte Persönlichkeit, die ich auch gegen widrige Umstände behauptend realisieren konnte, oder ich verleugne mich im Glauben (weil Beweis hier nicht möglich) an eine theoretisch daherkommende Behauptung, die mir das Subjektempfinden, die subjektive Selbstwahrnehmung als Lüge ausredet. Was ist wichtiger: meine authentische Selbstwahrnehmung, die auch kritische Selbstwahrnehmung beinhaltet, oder die Theorie, die von meiner Selbstwahrnehmung generell das Gegenteil behauptet? Jeder entscheide letztlich selbst.

"Die Abdifferenzierung von der ersten Natur, die Herausbildung des Menschen als Subjekt dieser gegenüber, ist also notwendig selber wieder subjektlos. Das gesellschaftliche Wesen, da 'entstanden' und nicht geschaffen, kann nur als subjektloses System zweiter Ordnung auftreten. Diese Subjektlosigkeit zweiter Ordnung ist der unvermeidliche Preis für das Subjektwerden gegenüber der unmittelbar natürlichen, biologischen Subjektlosigkeit erster Ordnung. Es 'entstehen' also subjektlos Systeme zweiter Ordnung, symbolische Systeme (Codes) des entstehenden und entstandenen Menschenwesens." (183 SH)

Der Mensch erschafft sich fortlaufend selbst, nicht physisch, sondern geistig. Ansonsten wäre er nur biologischer Prozeß. Denn das Geistige im Menschen macht ihn zum Menschen im eigentlichen Sinne. Ich sage auch, daß es sich schon bei hochentwickelten Tieren um personenhafte Wesen handelt. Damit widerspreche ich dem doch eher arroganten Vorurteil, Tiere seien quasi generell instinktgesteuerte Wesen. Der Übergang vom Tier zum Mensch war sowohl sprunghaft als auch fließend. Das Gegenteil kann mir keiner beweisen. Hochentwickelte Tiere bringen menschliche Züge zum Ausdruck. Die abstrakt-wissenschaftlich festgelegte Kluft zwischen Tier und Mensch ist für mich als liebendes, mitleidendes und mitfühlendes Wesen nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Ich kann die Beziehung zu einem Haustier wie Hund und Katze als personales empfinden. Dem können bestimmt viele Menschen aus Erfahrung zustimmen.

Selbsterkenntnis des Menschen ist also ein Prozeß des beständigen Erschaffens, der Stärkung seiner jeweils konkreten Persönlichkeit, die wiederum das konkrete Geistige in seiner Vielschichtigkeit beinhaltet. Der Mensch ist nicht einfach blind "entstanden", sondern trägt aktiv schaffend zu seiner Selbstwerdung bei. Die hochentwickelten Tiere haben ein im Vergleich zum Menschen schwach ausgebildetes Selbstbewußtsein, sind im hohen Maße instinktiv gebunden. Deshalb bleibt ihnen eine umfassendere Selbsterkenntnis verwehrt. Als vom Instinkt "entkoppeltes Tier" fällt nun der Mensch keinesfalls in eine subjektlose Konstitution, sondern die elementaren subjektiven geistigen Kräfte erlangen durch die Entkoppelung des Menschen vom Instinkt einen entschieden höheren Grad an Freiheit ihrer Wirkmöglichkeiten. Aber mehr Freiheit bedeutet auch mehr Gefahren. Die nun mehr und mehr selbstverantwortlichen geistigen Geschöpfe unterliegen ständig der Gefahr, einer Selbst- und Fremdvergötzung zu verfallen, die zu einer Schwächung der Persönlichkeit führt. Doch die Vergötzung ist kein endgültiges Schicksal, sondern findet seine entgegnende Entzauberung durch die Rückgewinnung wahrer existentieller Selbsterkenntnis, beruhend auf den authentisch-geistigen Wesenskräften des Menschen. Doch die erforderliche Selbsterkenntnis, die eine echte Überwindung des Kapitalismus primär begleiten muß, muß eine im Vergleich zu allen vormodernen Zeiten erweiterte sein. Sie beruht nicht auf ein einseitiges existentielles Versenken, sie ist an eine ganzheitlich-schöpferische Verarbeitung der geschichtlichen Prozesse und Erfahrungen gebunden, welche die Menschheit bis heute durchlebt hat. D.h., die Selbsterkenntnis muß heute in einer Weise vollzogen werden, die eine romantische Idealisierung vormoderner Zeiten oder gar einer ehemals angeblich funktionierenden ›Marktwirtschaft‹ nicht zuläßt. Selbsterkenntnis ist vor allem auch ein gemeinschaftlicher Prozeß, und deshalb gilt es, entsprechende soziale Verhältnisse zu schaffen, die diesen Prozeß begünstigen. Und Selbsterkenntnis bedeutet auch nicht, daß es nur um uns Menschen geht. In der Selbsterkenntnis erfährt sich der Mensch als ein nach Erkenntnis seiner selbst und der ganzen Welt zugleich strebendes Wesen. Wissenschaft (eingeschlossen die Geschichtswissenschaft als ein Teil der Selbsterkenntnis) bleibt somit eines seiner wichtigsten geistig-leidenschaftlichen Bemühungen von innen, aus dem Subjektiven heraus, auch wenn Wissenschaft letztlich immer eine dienende Funktion im Leben und Erkennen der Menschen einnehmen muß. Genauso wie alles andere kann auch die Wissenschaft zu einem Götzen werden, wie es heute im starken Maße der Fall ist. Wissenschaft schlägt in Szientismus um, der sich in allwissender Manier zum Ebenbild eines "absoluten Geistes" (Hegel) erhebt.

Die Untersuchung der Geschichte

"als 'Geschichte von Fetischverhältnissen'..." (184 SH)

bringt uns tatsächlich der Wahrheit ein Stück näher. Aber der Mensch war immer weitaus mehr als ein bloßes Fetisch-Wesen. Und es ist wahr, daß erst auf der Stufe des

"Warenfetisch als Kapitalfetisch" die "Fetisch-Konstitution" (185 SH)

deutlich zum Ausdruck kommt. Doch die "Fetisch-Konstitution" als Götzenkonstitution wurde schon früher angeprangert - ob in der Kunst oder der Philosophie oder selbst im Evangelium. Das die

"Fetisch-Konstitution überhaupt nur aus ihrer höchsten Entwicklungsstufe, dem Warenfetisch als Kapitalfetisch, hergeleitet werden" (185 SH)

kann, ist eine Behauptung, die von der absoluten Abhängigkeit des Menschen von den jeweiligen Verhältnissen bzw. der sekundär-äußerlichen gesellschaftlich-kulturellen Entwicklung ausgeht. (Übrigens nähert sich Kurz damit Hegels ›evolutionärem Geist-Denken‹ durchaus an.) Dem Menschen wird auf diese Weise die konkrete geistige Freiheit, d.h. sein zu allen Zeiten in ihm existierendes eigentliches Menschsein aberkannt.

"Auf den ersten Blick könnte es so erscheinen, als würde mit dem Begriff der Fetisch-Konstitution nicht nur der alte subjektiv-aufklärerische Herrschaftsbegriff, sondern der Herrschaftsbegriff überhaupt obsolet. Die Destruktion des Subjekts müßte dann im Begriff der bloßen Marionette gefaßt werden. Eine solche unvermittelte Preisgabe des Herrschaftsbegriffs wäre sozusagen schon taktisch inakzeptabel. Sie würde erstens den Menschen die real erfahrenen (und als durchaus leidvoll erlebten) Zwänge auszureden scheinen, die den Alltag auch der säkularisierten Fetischgesellschaft von totalem Markt und demokratischem Rechtsstaat bis in die Poren bestimmt. Daß diese Repression nicht mehr auf ein bestimmtes Subjekt zurückgeführt werden kann, daß sie 'strukturell' ist, ändert nichts an ihrem Charakter und nichts daran, daß sie hassenswert ist." (185 SH)

Und doch hängt die Repression von einem bestimmten Subjekt ab, und zwar von dem aktiv Handelnden. Das Subjekt repressiert sich auch selbst, indem es den gesellschaftlichen Kapitalfetisch verinnerlicht. Teilweise motiviert aus Angst vor dem Verlust des Lebensunterhalts für sich selbst und seine nächsten, aber auch in dem Glauben, daß die kapitalkonstituierte Verausgabung der Arbeitskraft überhaupt im Sinne einer Verbesserung der sozialen Lebensumstände geschieht und uns vor dem Rückfall in ein abergläubisches Mittelalter bewahrt, bringt das Subjekt den Kapitalfetisch in eine unheilvolle Liaison mit den inneren Momenten der Liebe, Freiheit und des Gewissens, aber auch des Leidens und der entsprechenden Opferbereitschaft, Momente, die sofort beginnen, ihre ursprünglich gemeinschaftliche Kraft einzubüßen und die fanatisierend und pervertierend zu Mitteln für einen unsichtbaren Götzen verengt werden. Der Mensch nimmt mit der Dauer seines abstrakten Arbeitens mehr und mehr die Entfremdung hin, bringt sich aktiv für eine Optimierung der kapitalistischen Akkumulation ein, affirmiert die im Kapital-Zusammenhang sich etablierenden niederen menschlichen Eigenschaften wie Erfolgssucht, Selbstherrlichkeit, egozentrische Selbstbehauptung, Geldgier, Gier nach materiellem Reichtum, Mitleidlosigkeit etc., akzeptiert beschönigend menschenverachtende Ausbrüche von Haß und Rache, sofern diese der Erhaltung der Finanz-Waren-Demokratien dienen. Authentisches Gewissen kann nahezu gänzlich in der Versenkung verschwinden und durch. ein persönlichkeitsminimierendes fetischorientiertes Anpassungsgewissen ersetzt werden, welches, gespickt mit Ängsten verschiedenster Art, gegen Zuwiderhandlung gerichtet ist und funktionsstörende Kräfte authentischer, aber auch chaotisch-pervertierter triebhafter Art abwehren soll. Die Institutionen der allgemeinen Disziplinierung, Schule etc., leisten ihr Übriges. Und dennoch, der unsichtbare Götze ist so unsichtbar eben nicht, er steht permanent im Widerspruch zur authentisch-schöpferischen Menschlichkeit. Dies spüren die Menschen immer wieder intuitiv, aber verdrängen es zugleich resignierend und abwehrend, um sich selbst und das lieblose, unfreie alltägliche Leben nicht in Frage stellen zu müssen, ein Leben, woran sie sich messen, woran sie doch immer wieder ihr Herz hängen, weil es sie so schön um- und versorgt (noch) - dies gilt insbesondere für die Menschen des modernen Westens. Doch leider scheint es gegenwärtig im Leben der meisten Menschen auf der Erde mittlerweile aus purer Not keinen Ausweg mehr zu geben, die diese Menschen auch schicksalhaft in der Kapitalverwertung gefangenhält.

"Hassenswert" ist die anonyme Repression. In diesem Punkt ist Robert Kurz absolut Recht zu geben. Dieser Haß gilt eben nicht irgendeinem Menschen, sondern eben einem menschenverachtenden Prozeß. Aber ich kann die anonyme Repression nur deshalb hassen, weil sie mir persönlich-subjektiv zuwider ist und ich mich geistig als Subjekt von ihr distanziere. Ansonsten würde ich sehr wohl zur "Marionette", zum willenlosen Geschöpf werden, und etliche Menschen sind in der Tat nicht weit davon entfernt. Der "Herrschaftsbegriff" bleibt vor allem deshalb bestehen, weil die Menschen die repressive anonyme Herrschaft trotz aller Entfremdung immer wieder bewußt

"(... als durchaus leidvoll erlebte) Zwänge" (185 SH)

erfahren. Bewußt erfahren heißt, subjektiv-persönlich erfahren. Man leidet nicht unbewußt, sofern man leidet. Abgesehen davon, daß einerseits viele Menschen entweder schon nicht mehr wissen und wissen wollen, woran sie eigentlich wirklich leiden - geschuldet einem starken Persönlichkeitsverlust - oder überhaupt alles auf eine Funktionsstörung des an sich guten Systems schieben, so leiden andererseits viele Menschen auch deshalb, weil sie sich nicht gänzlich an die Zwänge gewöhnen, ihnen gerecht werden können. Und sie machen sich dafür selbst verantwortlich, lasten es selbstzweifelnd (zumindest heimlich) ihrer Unfähigkeit an, die Systemverinnerlichung und -forderung effektiv umsetzen zu können, um gegenüber der Konkurrenz zu bestehen. Aber auch in diesem Zusammenhang liegt eine Schwächung der Persönlichkeit vor. Grundsätzlich jedoch begreift sich die Persönlichkeit nicht als Konkurrent und kann sich nicht mit äußeren Zwängen abfinden und versucht immer, widrige, leidensverursachende Umstände zu beseitigen. Das Leiden tritt hervor, weil sich der Mensch nicht in seiner Fülle erleben und entfalten kann, weil man sein Leben einengt und es ihm manchmal sogar nimmt. Leider hat es sich sehr tief in den modernen Menschen eingebrannt, das vermeintliche Glück im Leben vom erfolgreichen Bestehen und der entsprechenden Anerkennung innerhalb der Fetischverhältnisse abhängig zu machen, unabhängig davon, ob es den Menschen gelingt oder nicht. Aber die Annahme, wir wären gänzlich von dieser Anerkennung abhängig, würde jedes Bestreben, die Fetischverhältnisse zu beseitigen, unmöglich machen, selbst wenn diese immer wieder in sich zusammenbrechen. Der Mensch würde sich immer wieder neue Fetische suchen. So gesehen muß es also einen existentiellen Gradmesser in mir geben, der mich grundsätzlich in die Lage versetzt, die Umstände auch analytisch-verstandesmäßig-theoretisch zu ergründen und entsprechende Veränderungen anzustreben, die nicht im Sinne eines Fetischs sind. Wenn ich entgegen Kurz sage, daß die Repression sehr wohl auf ein bestimmtes Subjekt zurückgeführt werden kann, so schließe ich damit nicht den teilweisen Selbstlauf der Fetischmaschine und die damit einhergehenden Zwänge aus, die dem Menschen als ein in dieser Hinsicht auch partiell automatisches Subjekt nicht immer bewußt sind. Ich sage damit nur, daß es letztlich und primär in der Hand des Subjekts liegt, die Dinge zu verändern, auch wenn der Kapitalismus ohne subjektives Wollen an seinen inneren Widersprüchen zerbricht. Aber wie oben schon gesagt: Die fetischverhaftete Schose kann immer wieder in Gang gesetzt werden (auch über die Verwirklichung eines materialistisch ausgerichteten Sozialismus), auch nachdem der Fetisch-Prozeß eine gesellschaftliche Katastrophe hervorgerufen hat. Zusammenbrüche gab es schon eine ganze Menge, aber an der Herrschaft des Fetisch-Prinzips wurde nicht entscheidend gerüttelt. Hieran kann nur ein selbstbewußtes Subjekt rütteln, das der Entfremdung vor allem geistig in der Einheit von Freiheit, Liebe, Gewissen und Verstand zu widerstehen weiß. Das ist auch ein schöpferischer Lernprozeß, der zuweilen mit viel Leid verbunden sein kann. Mit der "radikalen Kritik" unter anderem von R. Kurz wird genau diese Möglichkeit eröffnet, aber meines Erachtens leider unter der verhängnisvollen Prämisse, daß das Subjekt aufzugeben sei. Denn gerade so wird einem subjektlosen Fetisch, z.B. in Gestalt der sogenannten "sinnlichen Inhalte", über die sich der angeblich subjektbefreite Mensch wiederfinden kann, abermals Tür und Tor geöffnet.

Jede gesellschaftliche Handlung wird von einem Subjekt ausgeführt, von einem primär selbstbestimmten oder fremdbestimmten Subjekt. Die im Subjekt verinnerlichte Fremdbestimmtheit ist jedoch sekundärer, unauthentischer Natur. Sie stellt eine geistig-subjektive Überantwortung des Menschen an eine z.B. automatische, anonyme Herrschaftsmacht/-konstitution dar.

"Auf den ersten Blick könnte es so erscheinen, als würde mit dem Begriff der Fetisch-Konstitution nicht nur der alte subjektiv-aufklärerische Herrschaftsbegriff, sondern der Herrschaftsbegriff überhaupt obsolet. Die Destruktion des Subjekts müßte dann im Begriff der bloßen Marionette gefaßt werden. Eine solche unvermittelte Preisgabe des Herrschaftsbegriffs wäre sozusagen schon taktisch inakzeptabel." (185 SH)

"Gerade um seinen zunehmend uneingestandenen 'drübersteherischen' Herrschaftsstandpunkt nicht real aufgeben und die Kritik nicht bis an die eigene Zwangs-'Identität' und gar bis an den eigenen Körper heranlassen zu müssen, läßt das Mann-Wesen sich sozusagen erleichtert in die Subjektlosigkeit und deren Begriff zurückfallen. Nicht ich bin es, die Struktur ist es. Das ist fast schon die Bewußtseinsverfassung des geisteskranken Triebtäters, der sich selber Schuldlosigkeit einredet, weil er ja 'nichts dafür' kann, obwohl er ein Wissen über sich und seine Taten hat... Um bleiben zu können, was er ist, und um Herrschaft weiterhin ausüben zu können, ist der zwangsheterosexuelle, zwangssouveräne und zwangsidentitäre Mann bereit, sich selbst für unzurechnungsfähig zu erklären und den Subjektanspruch an die 'Struktur' bzw. an das 'System' abzugeben: an die ungeheure Macht der Subjektlosigkeit, die ihm nicht konkret weh tut..." (186/187 SH)

Zunächst einmal, "um seinen zunehmend uneingestandenen 'drübersteherischen' Herrschaftsstandpunkt... aufgeben und die Kritik bis an die eigene Zwangs-'Identität'... heranlassen" zu können, muß der Mensch ein ursprüngliches Verhältnis zu sich und den anderen Menschen haben, von dem aus er das "Wissen über sich und seine Taten" überhaupt ins kritische Licht rücken kann. "Sich selbst für unzurechnungsfähig zu erklären", das geht nur, wenn man "den Subjektanspruch an die 'Struktur' bzw. an das 'System'..." abgeben kann, d.h. indem das Ich nicht selbstbestimmt sondern fremdbestimmt handelt. "Sich selbst für unzurechnungsfähig zu erklären" sagt eigentlich aus, daß man die persönliche Verantwortung für das Handeln bewußt an eine anonyme Herrschaft weiterdelegiert, daß man sich für unschuldig erklärt mit dem (geheimen) Wissen, daß man anderweitig auch persönlich für die weiterreichenderen Konsequenzen seines Handeln verantwortlich ist. Aber letzteres offen zuzugeben und sich einzugestehen, würde das selbstgerechte Bild, daß man persönlich keine (Mit-) Schuld an den menschenverachtenden Verhältnissen trägt, zerstören, zumal dieses Bild allgemeine Anerkennung genießt, weil man halt

"...'nur' seinen Job tut". (186 SH)

Der "Herrschaftsbegriff" kann vom ursprünglichen Verhältnis des Menschen zu sich und den anderen Menschen her nicht "obsolet" werden. Eine Kritik an der Herrschaft wäre ohne dieses Verhältnis auch "taktisch" nicht möglich, wäre völlig aus der Luft gegriffen. Auch Kurz weiß, daß ein

"Herrschaftsbegriffs und die Marionetten-Metapher nicht bloß aus quasi-taktischen Gründen abgewehrt werden (dürfen), um eine negatorische Position gegenüber hassenswerten und als unerträglich empfundenen Verhältnissen behaupten zu können." (187 SH)

Doch eine Kritik an einer verengten "Subjektivität", die als eine im Verhältnis zum korrelativen Objekt völlig autonom handelnde verstanden wird, kann das Problem der "Marionetten-Metapher" nicht lösen,

"denn 'Automatismus' und Subjektivität schließen sich ja gegenseitig aus." (188 SH)

Deshalb sagt Kurz:

"Das fetisch-konstituierte Bewußtsein kommt spontan zu dem Schluß, das codierende und gesetzstiftende 'Wesen' zu veräußerlichen, um dann beim Subjekt als der Marionette zu landen. Aber da 'draußen' ist 'nichts' ('Nichts'). Das Subjekt ist, eine Marionette, die selber die Fäden zieht. Das aber ist unmöglich, bzw. es ist die Metapher für etwas in den vorausgesetzten Denkformen undenkbares. Für das Subjekt gibt es als Bezugsgrößen entweder bewußtlose Objekte (Natur) oder andere Subjekte. Dann kann der Fetisch nur noch entweder Objekt, Natur und somit unausweichlich oder eben ein anderes und äußeres Subjekt sein. Die Begriffe von Fetisch und zweiter Natur verweisen aber darauf (und das ist eben der Unterschied zur Systemtheorie, die keinen Unterschied von erster und zweiter Natur kennt), daß es ein 'etwas' gibt, das im Subjekt-Objekt-Dualismus nicht aufgeht, das selber weder Subjekt noch Objekt ist, sondern dieses Verhältnis erst konstitutiert." (188 SH)

"Die einseitige Destruktion des Subjekts kann nicht bei sich stehenbleiben, das Subjekt kann nicht als bloßer Irrtum und als Marionette belassen werden, weil in der vorausgesetzten Denkform die Frage nach dem 'Subjekt des Subjekts' nicht abgewiesen werden kann." (189 SH)

"Der entscheidende Punkt ist, daß es eine Ebene innerhalb der menschlich-gesellschaftlichen Konstitution und somit auch innerhalb jedes einzelnen Menschen geben muß, die jenseits des Subjekt-Objekt Dualismus liegt. Für das Aufklärungsbewußtsein gibt es entweder Subjekt (Bewußtsein) oder Objekt, jedoch kein Drittes. Der Schlüsselbegriff für das Verständnis des 'Dritten' und eigentlich Konstitutiven kann nur der Begriff des Unbewußten sein." (189/190 SH)

Entsprechend einer erweiterten Auffassung von Subjektivität läßt sich jedoch sagen, daß sich "...'Automatismus' und Subjektivität" ergänzen. Subjektivität fügt sich in den Automatismus ein, ohne darin gänzlich aufgehen zu können, denn die Subjektivität ist im Subjekt ursprünglich eben nicht automatisch, sondern frei - partiell, potentiell immer schon. Der Kapitalismus läuft nicht absolut automatisch. Sobald der Mensch als aktiver, mit schöpferischen Kräften (mit Freiheit) ausgestatteter Handelnder entfällt, löst sich auch jede Kapital-Waren-Geld-Akkumulation in Luft auf, kommt zum Erliegen. "Das Subjekt ist" sehr wohl "eine Marionette, die" letztlich "selber die" entscheidenden "Fäden zieht", aber nicht total. Sobald das Subjekt freiwillig oder genötigt dem System dient, wirkt dieses anonym auf das Subjekt zwingend zurück, versucht, es in die eigenen Systemgrenzen zu pressen. Die ursprüngliche Freiheit im Schaffen verwandelt sich so permanent in Unfreiheit, und das geschieht gegenwärtig jeden Tag. Mit der Zeit kann des Menschen Abneigung gegen die fremdbestimmende Herrschaft nahezu gänzlich nachlassen, wenn genügend kompensatorischer Entschädigungsausgleich vorhanden ist. Der Mensch gewöhnt sich an die Fremdbestimmung und wird sogar süchtig nach ihr, aus purer Angst, vor dem Anblick der eigenen Freiheit, die nun im starken Maße in pervertiert-chaotischer Weise aus dem Unbewußten an die Oberfläche drängt und sich mit entsprechend destruktiven und niederen triebhaft-instinktiven Wesenskräften des Menschen vermischt. Das Vermögen gegensteuernder schöpferischer Kräfte wird nicht im erforderlichen Maße aufgebracht, um das Destruktive primär in sich und zugleich sekundär in den Verhältnissen bewältigen zu können; d.h., primär-individuelle und sekundär-gesellschaftliche menschliche Destruktivität können nicht getrennt voneinander überwunden werden. Der primär personale Mensch ist immer auch ein sekundär gesellschaftlich-sozialer. Jedoch bei der Verwirklichung der Persönlichkeit, da grundsätzlich geistig, fällt die gemeinschaftliche Seite mit der persönlichen primär zusammen; beide Seiten werden aber niemals identisch, bleiben immer existenzdialektisches, schöpferisches Moment im Menschen. Ansonsten wäre der Mensch nicht existent, da völlig bewegungs- und somit leblos, aufgelöst in einem absoluten Nichts.

Daß die gegensteuernden Kräfte nicht aufgebracht werden, kann nicht einfach nur mit herrschender Bewußtlosigkeit, mit einer autarken "subjektlosen Herrschaft" erklärt werden, die es an und für sich nicht gibt. "Subjektlose Herrschaft" ist immer nur ein hinnehmendes Zugeständnis an den Götzen, das aus der Schwäche der Persönlichkeit, des geistigen Menschen folgt. Der Mensch hat in Anpassung vor allem an die modernen kapitalistischen Verhältnisse von sich ein Selbstbild eines taffen, konkurrenzfähigen, perfekt agierenden Wesens entworfen, das sich über Mitleid zu erheben weiß, ein narzißtisches Selbstbild, mit dem sich der Mensch emotional zu identifizieren weiß. Über die emotionale Verankerung erhält das narzißtische Selbstbild eine trügerische Fülle. Zerbricht dieses Selbstbild, bleibt oft nichts als Leere, die der Mensch nicht zu füllen vermag. Für den narzißtisch verfaßten Menschen muß deshalb jeder Selbstzweifel zu einer Qual werden, da die Alternative sich zunächst oft nur noch als ein kümmerliches, entleertes Dasein entpuppt, worauf dem Menschen nichts einfällt, worauf er scheinbar keine Antwort zu geben vermag und er somit diesem kümmerlichen Dasein als endlose Höllenqual stetig aus dem Wege zu gehen versucht, was ihm immer schlechter gelingt, je unperfekter und widersprüchlicher das eigene Leben und die entsprechenden Verhältnisse werden. Der Mensch wäre bewußtlose Marionette, würde man den Kern dieser Marionette entsprechend der "radikalen Theorie" als eine dem Subjekt bewußtlos anhaftende Eigenschaft begreifen.

("Der Schlüsselbegriff für das Verständnis des 'Dritten' und eigentlich Konstitutiven kann nur der Begriff des Unbewußten sein.") (190 SH)

Doch die scheinbare Bewußtlosigkeit ist sekundärer Natur. Grundsätzlich fürchtet sich der Mensch vor den Konsequenzen seiner zu Selbstzweifel führenden, sich ethisch offenbarenden Intuitionen. Der Mensch redet oft vom schlechten ›Gewissen‹, das innerlich bewußt hier und da in Ansätzen aufflackert. Es handelt sich tatsächlich um ein schlechtes ›Gewissen‹ ("Über-Ich"), wenn es einem Götzen, z.B. der kapitalistischen abstrakten Arbeit dient, aber es handelt sich wiederum um kein ›schlechtes Gewissen‹, wenn es im kritischen Verhältnis zu den mitleidlosen, egozentrischen, süchtigen Taten eines in diesem Fall tendenziell destruktiven Bewußtseins wahrgenommen wird. In Wahrheit ist es dann das authentische, reine Gewissen, das nur mit Mühe unter Verschluß gehalten werden kann. (Im Kapitalismus scheint dies am besten zu gelingen.) Dieses originäre Gewissen spricht eine völlig andere, eine die entwürdigenden Verhältnisse sprengende Sprache. Aber dieses Gewissen ist kein fertiges Konzept, welches in praktische Anwendung gebracht werden könnte, sondern lediglich eine unmittelbar religiös-authentische Aufforderung in einem lebendigen Menschen, seine Verhältnisse mit allen Kräften seines Wesens (Verstandeskräfte eingeschlossen) im Sinne der Liebe, der Fülle des Lebens, der Persönlichkeit und der mit ihr eng verwobenen echten Gemeinschaft schöpferisch zu verändern. Aber wie gesagt, der Mensch gerät schnell in den Sog widriger, verführerischer Umstände und kann sein Gewissen in Überantwortung an einen Götzen verraten und dabei seinen Ursprung aus den Augen verlieren, ihn verdrängen. Das Problem des Menschen angesichts seiner desolat-destruktiven subjektiv-inneren und sozialen Verhältnisse besteht darin, daß die Anzeichen seines reinen Gewissens nicht automatisch zu einer inneren Befreiung, die sich jeder Mensch primär sehnlichst wünscht, führt. Das reine Gewissen, und wenn auch nur ein Rest davon, erscheint eher als ein Störfaktor, der das Leben beunruhigt, aus den Bahnen wirft und Konsequenzen fordert, die einem stark egozentrisch ausgerichteten Menschen als Zumutungen erscheinen, die für ihn scheinbar immer nur in die endlose Hölle der eigenen Leere und Fragwürdigkeit führen können, einer Leere, die der zunehmenden Schwäche der innerlich-authentischen Kräfte angesichts eines entsprechend unerfüllten Lebens an der Oberfläche einer objektivierten Warenwelt geschuldet ist. Solange Ware und Geld noch genügend vorhanden sind, sich der individualistische Erfolg noch einstellt, die Kompensationen im weitesten Sinne noch funktionieren, wird sich der Mensch wohl kaum dazu aufraffen können, auf die innere Stimme zu hören, sofern sie sich noch meldet. Aber auch wenn ein allgemeiner Zusammenbruch der Warenwelt bis in die westlichen Kernländer hinein massiv durchschlagen, überhaupt das Leben auch physisch unerträglich werden sollte, hängt ein völliger Neuanfang von der Bereitschaft der Menschen ab, einen zunächst unvergleichlich leidensvolleren Weg authentischer Selbsterkenntnis zu beschreiten. Genau genommen befindet sich der Mensch seit seinem Erscheinen mehr oder weniger schon immer auf dem Weg der Selbsterkenntnis, doch die Lage spitzt sich heute im unerhörten Maße zu, und nicht immer führt dies zu schöpferischen Einsichten, sondern auch in den blanken Wahnsinn eigener Befindlichkeiten.

Jedem äußerlichen "Subjekt-Objekt Dualismus" geht ein ursprüngliches, ganzheitliches, existenzdialektisches Subjekt voraus. Dies könnte man als das "Dritte" bezeichnen. Das "Unbewußte" ist lediglich ein Teil des ganzheitlichen Subjekts. Das Überragende und Wesentliche des "Unbewußten" wird von Kurz in Erweiterung Freuds als "gesellschaftliche Konstitution" aufgefaßt. So gesehen wären wir in unserem Handeln prädestiniert und dies gänzlich, da laut Kurz das Subjekt gewissermaßen nur im Verhältnis zu einem korrelativen Objekt existieren kann und das "Unbewußte"

"als blinde Form-Konstitution des Bewußtseins" (193 SH)

das Subjekt quasi leitet. So gesehen werden wir absolut von einem Dogma geleitet. Diese Feststellung zeugt von einer starren Vorstellung vom Unbewußten. Das hat mit der realen Dynamik des menschlichen Innenlebens jedoch nichts tun. Über das Unbewußte als ein Teil der menschlichen Persönlichkeit können wir nur sprechen, weil es sich zumindest partiell, in spontanen Schüben, fortlaufend im Bewußtsein bemerkbar macht und dort realisiert wird. Das Unbewußte ist sowohl die primäre Quelle, beinhaltet aber auch verdrängte sekundäre Momente des Bewußtseins und bildet mit dem Bewußtsein eine dynamische Wechselbeziehung. Quellen des Bewußtseins sind die ursprüngliche, unergründliche bzw. potentielle Freiheit als Ausgangspunkt jeglichen Prozesses und primär authentische schöpferisch-ethische, aber auch sekundär authentische destruktive Kräfte im weitesten Sinne. Destruktive Kräfte bedürfen ebenfalls eines schöpferisch-leidenschaftlichen Impulses, um wirksam werden zu können. Zu den schöpferisch-ethischen Kräften zählen vornehmlich die Liebe und die in ihr wirkende schöpferisch-geistige Freiheit, die Wahrheitsintuition als originäres Gewissen, das Leiden und Mitleiden, die Freude, die Hoffnung, der Mut; zu den destruktiven Kräften, in denen sich eine destruktiv ausgerichtete Freiheit ereignet, zählen besonders der Groll, der Haß, das Rachegefühl, die Gier, der Neid, die Sucht, die Furcht, die Angst. (Mir geht es hinsichtlich der Aufzählung von Wesenskräften nicht um Vollständigkeit.) Der Charakter und die Wirkung der Wesenskräfte des Menschen sind jedoch auch vom Kontext abhängig, in dem sie stehen. Dies trifft beispielsweise auch auf die Angst und den Mut zu:

So gibt es die existentiell-natürliche Angst vor der physischen Vernichtung und den Schmerzen, die mit dieser Vernichtung verbunden sind. Diese Angst ist Teil des natürlichen Selbsterhaltungstriebes und muß - genauer betrachtet - als Furcht bezeichnet werden: "Furcht hat bestimmte Ursachen; sie ist mit Gefahr verbunden, mit der alltäglichen empirischen Welt. Angst hingegen wird nicht vor der empirischen Gefahr empfunden, sondern angesichts des Mysteriums des Seins und Nichtseins, vor dem Transzendenten Abgrund, vor dem Unbekannten. Der Tod ruft nicht nur Furcht vor dem Ereignis, das sich noch in der empirischen alltäglichen Welt abspielt, hervor, sondern auch Angst vor dem Transzendenten. Furcht ist mit Sorge, Angst vor Schlägen und Leiden verbunden. Furcht hat keine Erinnerung an die höhere Welt, sie ist nach unten hin gerichtet, ans Empirische geschmiedet. Angst hingegen ist ein Grenzzustand, dem Transzendenten benachbart; Angst empfindet man vor der Ewigkeit, vor dem Schicksal." (Berdjajew, N.: Von des Menschen Knechtschaft und Freiheit. Versuch einer personalistischen Philosophie, Holle Verlag, Darmstadt und Genf, 1954, S. 66 - 67)

Die existentiell-natürliche Angst (Furcht) tritt in den Hintergrund, sobald dem personalen Wesen die existentiell-geistige Angst vor dem Tod zu Bewußtsein kommt. Die Angst vor dem Tod ist die grundlegende für all die Ängste, die das Leben begleiten können. Die Überwindung von Ängsten im Leben beinhaltet zugleich immer eine partielle Überwindung des Todes, was gerade für die Verwirklichung der Persönlichkeit von ausschlaggebender Bedeutung ist, für die es wesentlich um die Überwindung des Todes im geistigen Leben geht. Ängste im Leben können vor allem auch erniedrigend sein: so die Angst vor einer fremden, höheren Macht, der man gehorcht – damit hängt das im wahrsten Sinne des Wortes schlechte ›Gewissen‹ zusammen. Oder die Angst, ins Loch der Bedeutungslosigkeit zu fallen. Von dem Gefühl der Bedeutungslosigkeit wird der Egozentriker geplagt, wogegen er massiv, egozentrisch immer nur sich selbst behauptend, anzugehen versucht und auf diese Weise in einen Teufelskreis gerät. Mit der egozentrischen Angst geht die erniedrigende Angst vor dunkler Einsamkeit und Leere, gehen niedere Verlustängste im weitesten Sinne einher. Etc. Mit der Realisierung der Persönlichkeit kann die Angst entstehen, grundsätzlich die Realisierung der Wahrheit und Fülle des Lebens zu verfehlen, weil man sich z.B. dem Drang und dem Anspruch der Liebe nicht gewachsen fühlt. Der liebende Mensch kann von Angst erfüllt werden, weil die Liebe mit einer Welt der Widrigkeiten tragisch verquickt ist. Noch tragischer ist, daß die Liebe sich wahrhaft nur konkret ereignet und zu einer gläsernen und allgemeinen, allem gleichermaßen zugewandten ›Liebe‹ im Widerspruch steht; hier spreche ich von dem Konflikt des Menschen, sich für die Liebe zu einer ››geistigen Lebenssphären‹‹ (Berdjajew) mehr oder weniger entscheiden zu müssen:

››So sieht sich der Mensch manchmal verpflichtet und innerlich gezwungen, einer Liebe zu entsagen, die er als höchsten Wert und höchstes Gut auffaßt, im Namen eines Wertes, der zu einer anderen geistigen Lebenssphäre gehört, im Namen etwa der zutiefst erlebten geistigen Freiheit oder der familiären Beziehungen, oder endlich aus Mitleid zu anderen Menschen, denen seine anders gerichtete Liebe Leiden bringt. Oder aber umgekehrt: der Mensch kann den zweifellosen Wert seiner geistigen Freiheit und seiner Berufung in dieser Welt, der Familie und Mitleides zu seinen Mitmenschen zugunsten des unendlichen Wertes der Liebe zum Opfer bringen. Entscheidend ist dabei, daß kein Gesetz und keine Norm den auf diese Weise entstandenen Wertkonflikt des sittlichen Willens zu lösen verhelfen können. Der tragische Wertkonflikt appelliert an die menschliche Freiheit; seine Lösung vollzieht sich durch die schöpferische sittliche Tat.‹‹ (Berdjajew, N.: Von der Bestimmung des Menschen, Gotthelf-Verlag, 1935, Bern-Leipzig, S. 212)

Der Mensch kann eine große Angst vor der notwendig zu treffenden schöpferisch-ethischen Entscheidung haben, vor allem dann, wenn die Liebe sowohl zu der einen als auch anderen ››geistigen Lebenssphären‹‹ von vornherein schon weitreichend und tief ist. Auf der einen Seite können also Ängste einen zunächst verhindernden, tendenziell unschöpferischen oder gar destruktiven Charakter annehmen, insbesondere auch dann, wenn die Liebe aus Angst bewußt verraten wird. Auf der anderen Seite jedoch knüpft sich gerade an die Ängste die wahre Erkenntnis, daß die Fülle des Lebens bzw. die Liebe nicht untragisch und gefahrlos zu haben ist, sondern schöpferisch-ethischen Mut erfordert. Aber auch der Mut kann schnell zum Übermut werden, wenn man in Überschätzung seiner selbst die Zerbrechlichkeit und Tragik und den komplexen schöpferischen Anspruch der Liebe unterschätzt, wovor uns wiederum eine momentane und nun schöpferisch-ethisch orientierte, aber überwindbare Angst bewahren kann, indem sie den ungestümen Drang und Anspruch der Liebe in ein schöpferisches Verhältnis zu den der Liebe entgegenstehenden Widrigkeiten in dieser Welt setzt, indem sie eine leichtfertige Entscheidung hin zu einer der verschiedenen ››Lebenssphären‹‹ bremst und uns zur schöpferischen Demut anhält, die wiederum die Erkenntnis mit sich führt, daß Liebe letztlich keine erlernbare Fähigkeit oder zielsicher zu organisierende Sache, sondern eine Gnade ist, die ethisch orientierte Freiheit verlangt, um sich ereignen zu können und nicht schon im Keim erstickt zu werden. Die Bedingungen des Lebens sind nicht von vornherein in eine Atmosphäre der Liebe und Harmonie getaucht, sondern müssen erst entsprechend umgewandelt werden, was immer ein offener, mit Schwierigkeiten verbundener Prozeß ist und bleibt - darin liegt Tragik, aber auch Chance und Hoffnung. Und niemals wird die konkrete Liebe den verschiedenen ››Lebenssphären‹‹ und deren Ansprüchen gleichermaßen umfassend gerecht werden können. Ängste sind unvermeidlich, sind Bestandteil des Lebens, müssen aber letztlich fortlaufend schöpferisch überwunden werden, sollen sie das Leben nicht verhindern.

Der Mut zur Liebe ist die eine Seite, die andere, die destruktive Seite, kann unter anderem darin zum Ausdruck kommen, daß die Menschen gerade im Krieg sogenannten ›Heldenmut‹ beweisen. Es ist nicht primär die "blinde Form-Konstitution des Bewußtseins", die den Menschen zu solchen Handlungen motiviert, sondern die trügerische Hoffnung, dafür geliebt, verehrt, von der ›Gemeinschaft‹ anerkannt zu werden etc., eine Hoffnung, die, ohne das sie es eingestehen wollen, für die Menschen im Vordergrund steht. Die Motivation des menschlichen Handelns überhaupt kann niemals von einer sogenannten "Form-Konstitution" ausgehen, sondern höchstens in ihren Bahnen verlaufen.

Genauso können auch Wut und Zorn entweder schöpferisch-ethisch orientierte oder destruktive Wesenkräfte sein; dies ist vom Kontext abhängig, in dem diese Kräfte stehen. Diese Kräfte können sowohl der Verteidigung der Persönlichkeit, der Freiheit, der Liebe und der Wahrheit, aber auch niederen oder bösartigen Beweggründen und Ressentiments dienen.

Aber auch wenn man davon spricht, daß jemand Freude an der Qual des anderen haben kann, handelt es sich dabei eben nicht um die echte Freude der Liebe. Dunkles, gefangenes, vernichtendes Leiden aus Haß entspricht in keiner Weise dem transzendierenden, zugewandten Leiden um die, für die, aus Liebe. Die Hoffnung an sich entzieht sich dem Niedergang, der Apathie, dem Tod. Im Grunde gibt es keine Hoffnung auf den Tod, sondern nur eine Hoffnung auf die Befreiung von ihm. Auch der sich quälende Mensch, der auf den Tod hofft, hofft in Wirklichkeit, endlich von der Qual hin zum Tode befreit zu werden, den Tod überwinden zu können. Es gibt keinen Tod nach dem Leben, obwohl es ein Leben nach dem Tod gibt - d.h., diese letztere Beziehung drückt eine rein existentielle Wahrheit aus. Leben und Tod sind unabdingbar aufeinander bezogene Realitäten der geistigen Existenz eines Menschen. In einer Welt ohne geistiges Leben existiert kein Tod. Wahre Hoffnung bezieht sich auf die Liebe, trügerische Hoffnung auf niedere, kurzfristige Ziele. Das originäre Gewissen ist eine schöpferische Gabe des Menschen, das schlechte ›Gewissen‹ ein Erziehungsprodukt. Das Mitleid ist eine der wesentlichsten Grundbedingungen des wahrhaft menschlichen Zusammenlebens. Jedoch kann das Mitleiden den Menschen auch überfordern, zerreißen, zerstören, lebensunfähig machen. Im Mitleid kann der Mensch sich selbst gefallen. Aus übertriebenem, letztlich auf sich selbst bezogenem Mitleid kann man anderen Menschen die Luft zum Atmen nehmen - etc. Die existentiell erlebte authentische Wahrheit der ganzheitlichen Persönlichkeit ist Fülle des Lebens; die existentielle Erfahrung innerer Zerrissenheit, egozentrischer Einsamkeit etc. ist dagegen die bittere Wahrheit des Verlustes des personal-ganzheitlichen Zusammenhalts, der Fülle des Lebens. Die authentische Liebe ist ein Prozeß der Selbstwahrung, der Realisierung der gemeinschaftsstiftenden Persönlichkeit; die Liebe zum Fetischobjekt ist Verleugnung, Verrat, Verdrängung der Persönlichkeit und verbunden mit der Schaffung eines hörigen, verlogenen ›Selbst‹. Wahre Liebe ist geistige Freiheit, destruktive Freiheit verhindert diese Liebe. Und im Leben, in der Beziehung zur Welt im weitesten Sinne, können die authentische Wahrheit und Liebe unter Umständen auch vernichtend sein und bedürfen deshalb der schöpferischen Zurückhaltung, Demut. Etc.

Weiterhin haben diejenigen Kräfte, welche sich im transzendierenden Schaffen und Wirken des Menschen bemerkbar machen wie die Einbildungskraft und die mit ihr verwobene Erfindungsgabe, die Phantasie, ihren schöpferischen Ursprung im Unbewußten, vorzugsweise in der Freiheit. Die Richtung dieser Schaffenskräfte kann gemäß der schöpferisch-ethischen, aber auch der destruktiven Kräfte bestimmt sein. So können beispielsweise das Gewaltstreben, die Bösartigkeit, der Zerstörungswahn, die sexuelle Perversion u.a.m. durch die Einbindung von Einbildungskraft, Erfindungsgabe und Phantasie exzessiv ausgeweitet und gesteigert werden. Der

"Kannibale von Rotenburg" (Tr 134)

läßt grüßen.

Das Unbewußte beinhaltet primär keine Form, sondern ist zunächst Entstehungsprozeß von Instinkten, Intuitionen, überhaupt von schöpferisch-ethischen und destruktiven Kräften, die inhaltlich bestimmt sind. Nur sekundär werden Automatismen angelernt-gewohnheitsmäßiger Art hergestellt, die eine bestimmte Form annehmen, aber in ihrer Funktion grundlegend von der schöpferischen Quelle abhängig sind, dieser bedürfen und primär über die Quelle verändert und gar beseitigt werden können; dies gilt grundlegend auch für die sogenannte "blinde Form-Konstitution des Bewußtseins". Ob letztlich der Mensch die schöpferisch-ethische oder destruktive Richtung einschlägt, das ist eine Frage der Stärke der Persönlichkeit, die sich ursprünglich-intuitiv immer nur von ihrem authentischen schöpferisch-ethischen Wesenskern her begreift. Auf die Persönlichkeit als ganzheitlich-integraler Zusammenhalt kommt es an, und wenn dieser durch widrige Umstände geschwächt wird, gewinnt die Destruktivität an Raum. Doch im Grunde besitzt der Mensch einen unaufhörlichen Drang, seinem Persönlichkeitsverlangen nachzukommen, sich selbst vom authentisch-wahren Wesen her treu zu bleiben.

Der Mensch findet mehr oder weniger einen bewußt verbindenden Zugang zum Strom des Unbewußten, aus dem heraus er seine eigene Persönlichkeit schafft in der dafür unabdingbaren Auseinandersetzung mit der Welt überhaupt. Die Persönlichkeitsentwicklung ist davon abhängig, inwieweit die Momente des ständig zum Bewußtsein kommenden Unbewußten von der Persönlichkeit integrierend und sublimierend zusammengeführt werden können. Destruktiv hervortretende Momente, einschließlich verdrängte Emotionen der persönlichen Entwürdigung, die sich nun über einen wie auch immer gearteten Ersatz, z.B. über Sadismus oder Masochismus etc., den Weg ins Bewußtsein bahnen und zum Teil auf diese Weise abreagiert werden können, zeugen davon, daß eine ganzheitlich integrierende und überwindende Kraft nicht in dem Maße aufgebracht werden konnte, die sich schöpferisch direkt gegen die Ursache der Destruktivität wendet. So verlangt die Fetischorientierung, die einem Menschen durchaus affirmativ bewußt sein kann (Geld ist das Wichtigste. Alles andere sind Träumereien.), sich dem entsprechenden Fetisch-System unterzuordnen. Dazu müssen jedoch intuitive Emotionen, die dem Menschen zu Bewußtsein kommen und sich gegen eine allgemeinverbindliche Funktionalisierung und Anpassung auflehnen, ständig bekämpft, unterdrückt bzw. verdrängt werden. Aus diesem Kampf gegen den eigenen Widerwillen, d.h. gegen die persönlichkeitsmotivierten authentischen Kräfte, erwachsen Ressentiments wie destruktive Wut bis hin zum Haß, der sich häufig innerhalb des Fetisch-Systems rachevoll und aggressiv gegen schwächere ›Glieder‹ bzw. ›Objekte‹ richtet, zu welchen Menschen herabgewürdigt werden. Ein Beispiel dafür ist Mobbing. Dennoch, eine ganze Menge Menschen scheinen ihre Funktionalisierung und den damit verbundenen Stumpfsinn gelassen und diszipliniert hinzunehmen. Jedoch der Schein trügt. In Wahrheit finden sie für ihren unterschwellig anwachsenden Irrsinn in der heutigen Zeit einfach noch genug exzessive Kompensationsmöglichkeiten und Ventile.

Der Kampf gegen die authentischen schöpferisch-ethischen Kräfte ist ein Kampf gegen die eigene Persönlichkeit, schwächt diese und erniedrigt sie mehr oder weniger gegenüber einem fetischorientierten Inhalt, der, einmal im Prozeß (auch über die Inanspruchnahme existentiell-schöpferischer Kräfte), stark automatische Züge annehmen kann. Der fetischorientierte Mensch kann schöpferisch bezüglich der Erweiterung des Fetisch sein, er ist relativ starr bzw. unschöpferisch insbesondere im Umgang mit sich selbst und anderen Menschen, die er häufig aus Gewohnheit zu Objekten herabwürdigt.

"Die gesellschaftlich-historische Form des Bewußtseins ist das zutiefst Eigene, das zutiefst fremd und unbekannt ist, und das deswegen, sobald es thematisiert wird, als fremde und äußerliche 'Macht' verstanden und erlebt werden muß." (193 SH)

Aber nach welchen Grundannahmen wird diese "Form des Bewußtseins" "als fremde und äußerliche 'Macht' verstanden und erlebt"? Mir kann nur etwas fremd sein, wenn mir etwas anderes vertraut und eigen ist, wonach ich das Fremde bewerte, wenn ich es thematisiere. Ansonsten ließe sich diese "Form" gar nicht thematisieren. Auch eine sogenannte "radikale Kritik" setzt in dieser Hinsicht eine - sagen wir - emotional-leidenschaftlich gefärbte ethische Grundeinsicht, d.h. eine intuitive Menschlichkeit, voraus, so z.B. wahrnehmbar als bewußt-persönliches Leiden an den unmenschlichen Verhältnissen, ansonsten wäre diese Kritik nur ein völlig belanglos-kühles Beschreiben von Widersprüchen, wüßte aber im Grunde nicht, worum es geht und weshalb eine "Form des Bewußtseins" zu kritisieren sei. Keine auch noch so verkürzte Kritik der gesellschaftlich-sozialen Verhältnisse könnte nur anhand eines völlig losgelösten logischen Widerspruchs herbeigeführt werden. Das ist nicht möglich. Das wäre quasi nur reine Rechnerei - sinnlos. Doch auch für Kurz ist das Leiden Ausgangspunkt und Anstoß zur Kritik. Aber er verwehrt sich zugleich gegen eine apriorisch-ethische Grundannahme bzw. Grundeinsicht, als welche das Leiden einzig Sinn machen würde. An dieser Stelle offenbart sich ein unlösbarer Widerspruch in Kurz' "radikaler Kritik": Das Leiden wird als existent wahrgenommen, aber damit ist angeblich noch keine Erkenntnis verbunden. Die kommt dann erst von einer sogenannten höheren "Bewußtheit" (zur "Bewußtheit" siehe auch weiter unten), die dann feststellt,

"woran gelitten wird" (128 Tr);

als wenn Leiden und "Bewußtheit" sich nicht zugleich im Menschen als ganzheitliches Wesen vollziehen, als wenn Leiden ein losgelöstes autarkes Geschehen wäre.

"Die allgemeine Bewußtseinsform und ihre Kategorien sind nicht ontologisch, sondern historisch-genetisch zu fassen. Für jede Formationsstufe gilt eine eigene bewußtlose Bewußtseinsform mit eigenen Codierungen und 'Gesetzmäßigkeiten'. Diese (jeweilige) Form des Bewußtseins konstituiert ein allgemeines Raster der Wahrnehmung ebenso wie der sozialen und geschlechtlichen Beziehung; Weltwahrnehmung bzw. Naturwahrnehmung und mitmenschlich-gesellschaftliche Beziehungswahrnehmung sind also in die Matrix ein und derselben unbewußten Form gefaßt, die immer gleichzeitig allgemeine Subjektform und allgemeine Reproduktionsform des menschlichen Lebens ist. Diese Form entsteht bewußtlos im historischen Prozeß aus der Akkumulation von unbeabsichtigten Nebenwirkungen und deren Verdichtung, und zwar vom Übergang der Menschwerdung aus dem Tierreich an." (195/196 SH)

Wenn die Quelle der "allgemeinen Bewußtseinsform" "historisch genetisch zu fassen" ist, so ist der Mensch zunächst quasi schicksalhaft dem Geschichtsprozeß ausgeliefert. Die Frage nach einer schöpferischen Verantwortung für die eigene Geschichte erübrigt sich, sie ist nicht möglich. Selbst das Desaster einer "fetisch-konstituierten" Gesellschaft, das immer schon vorprogrammiert ist, kann vom Menschen nicht verhindert werden, wird letztlich zu einem endlosen Problem, solange das Desaster während des entsprechenden Zusammenbruchsszenarios der Warengesellschaft nicht gleichzeitig in allen Köpfen tabula rasa mit jeglichen "Formen" gemacht hat. So droht uns Menschen immer die Verdammung in eine

"sekundäre Barbarei"(212 SH),

die wir grundsätzlich nicht verhindern, sondern höchstens auf einen milden, historisch-günstigen Verlauf des Zusammenbruchs hoffen können, aus dem heraus wir dann irgendwie in eine

"Bewußtheit gegenüber... (unserer) eigenen Gesellschaftlichkeit" (210 SH)

fallen, die aus heiterem Himmel halt über uns kommt. Eine schöpferisch-freie Erringung einer fetischfreien Gesellschaft ist nicht möglich. Und der Gradmesser der "Bewußtheit" findet sich nun plötzlich in den ebenfalls historisch entstandenen bzw. entwickelten Versatzstücken eigener und gegenständlicher Inhaltlichkeit, die sich dann wohl doch so nebenbei, trotz aller Form-Blindheit, entwickeln konnte oder doch immer schon da war(?) - wie auch immer.

"Die Bewußtseinsform der jeweiligen Fetisch-Konstitution umfaßt alle menschlichen Lebensaspekte." (196 SH)

Nur, der Dualismus von subjekttragender "allgemeiner Bewußtseinsform" und subjektlosem "Inhalt" kann nicht überbrückt werden. Somit sind wir entweder der "Bewußtseinsform" unterworfen oder wir handeln gemäß den "Inhalten". Entsprechend historischer Fetisch-Formationen sind wir blind, mit Beginn einer selbstgemachten(?) Geschichte sind wir sehend. Zuerst sind wir gänzlich gefangen, unfrei; nach dem entscheidenden historischen Zusammenbruchssprung sind wir inhaltsbestimmt, frei(?) auf der Grundlage einer

"gesellschaftlichen Selbst-Bewußtheit" (210 SH).

Vor dem Zusammenbruch, also bis heute, konnten wir somit niemals Menschen im eigentlichen Sinne sein. Diese Möglichkeit wird uns erst in der Zukunft zuteil, wenn wir im gesellschaftlichen, mit "Bewußtheit" gestalteten Zusammenleben unser eigentliches Menschsein eventuell voller Erstaunen oder Entsetzen(?) erfahren. Oder unser Menschsein verwirklicht sich gar in einem Zustand völliger Gelassenheit, denn die Inhalte führen möglicherweise schon vom Potential her, richtig angewendet, in die Harmonie, d.h. in ein gänzlich untragisches ›Leben‹ - vergleichbar mit der Leere buddhistischer Ausrichtung. Es kommt also jeweils auch auf den

"sinnlichen Inhalt des Reichtums" (155 SH), den "sinnlichen Bedürfnisinhalt" (155 SH), den "Inhalte(n) des Bewußtseins" (218 SH) etc.

an, "Inhalte", die Kurz widersprüchlich ja schon von vornherein als positiven Wertmaßstab ansetzt. Allerdings, eine entsprechend eingehende Auseinandersetzung mit dem Inhaltsbegriff wird von Kurz nicht wirklich geleistet. Dies gilt vor allem für die "Inhalte des Bewußtseins"; eine entsprechend tiefergehende Erörterung würde geradewegs in den existentiellen Bereich führen, der Basis für eine existentialistisch-ethisch orientierte Philosophie, die Kurz in den negativ bestimmten Bereich der Aufklärungsideologie stellt:

"Die Strukturalisten waren zuvor allesamt durch die Schule der westlichen Subjekttheorien gegangen (Marxismus, Existentialismus, Phänomenologie, Kritische Theorie)." (171 SH)

"Und deswegen gelingt es den bienenfleißigen akademischen Sekundärliteraten, Paarhufern und Wiederkäuern mittlerweile auch, sämtliche westlichen Herrschafts- und Subjekttheorien seit der Jahrhundertwende als einen einzigen großen Denkfladen wieder auszuscheiden und auf dem geduldigen Papier abzulegen." (172 SH)

Eine Differenzierung existentialistischer Ansätze wird erst gar nicht in Erwägung gezogen, vielleicht aus Unkenntnis(?). Was man landläufig als Existentialismus bezeichnet, wird pauschal abgetan.

Aber Kurz weiß Folgendes zu sagen:

"Was bisher einem blinden Regelmechanismus folgte, muß in das 'bewußte Bewußtsein' der Menschen, in die Selbst-Bewußtheit überführt werden. Am ehesten ist diese Transformation vielleicht vorstellbar im Hinblick auf diejenigen Momente der gesellschaftlichen Reproduktion, die bisher als 'Ökonomie' firmierten. Die sozialökologische Krise im Negativen und der Vernetzungsgedanke im Positiven legen es nahe, die Eingriffe in Natur und Gesellschaft nicht mehr nach einem für alles und jedes gültigen Prinzip (Geldform, 'Rentabilität') ablaufen zu lassen, sondern sie nach sozialen und ökologischen Gesichtspunkten zu sortieren, je nach dem sinnlichen Inhalt des Eingriffs und seiner Reichweite etc. Eine solche Diversifizierung, die bei Strafe wachsender Katastrophenträchtigkeit unausweichlich geworden ist, kann aber nur dadurch praktisch gemacht werden, daß sich die gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse direkt auf den sinnlichen Inhalt der Reproduktion beziehen und nicht mehr von einer bewußtlosen Form codiert und gefiltert werden." (216 SH)

Was meint hier "sinnlicher Inhalt", worauf bezieht sich dieser? Gemäß Kurz' "negatorischer" Subjektkritik muß man davon ausgehen, daß es sich in diesem Fall beim "sinnlichen Inhalt" nicht um einen vom Subjekt ausgehenden, aus subjektiv-apriorischen Motiven gespeisten Sinn-Inhalt der "Reproduktion" handelt, sondern um die Eigenqualität des Inhalts

("Eigenqualität der Inhalte" - 122 Tr)

der "Reproduktion", auf die dann schließlich tatsächlich die "gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse direkt" bezogen werden. Mit anderen Worten: Die Reproduktion wäre so gesehen Ausgangspunkt und Ziel. Aber was ist das für eine Reproduktion? Wird hier still und heimlich vorausgesetzt und angenommen, daß diese Reproduktion, damit sie nicht zum Fetisch wird, nach den "Bedürfnisinhalten" des Menschen ausgerichtet werden muß? Und wenn ja, was sind das für "Bedürfnisinhalte"? Es kann sich doch hierbei nicht nur um physisch-sinnliche Bedürfnisse handeln, sondern muß auch die geistigen Bedürfnisse des Menschen mitumfassen. Und wenn von geistigen Bedürfnissen die Rede ist, dann geht es um den Menschen als existentiell-schöpferisch-geistiges, als wesentlich liebendes und in dieser Hinsicht religiöses Wesen. Ein sogenannter "sinnlicher Inhalt der Reproduktion", unabhängig von der apriorischen Intention des Menschen, kann nicht gedacht werden, ist ein Unding. Weiter:

"An die Stelle der für alles und jedes gültigen allgemeinen Bewußtseins- und Reproduktionsform, von der die Menschen erst gesellschaftlich 'gemacht werden', die jedoch außerhalb ihrer Bewußtheit und damit ihres Zugriffs liegt, muß eine bewußte 'Beratung' und organisierte Handlung treten, von der Reiseverkehr, Apfelproduktion, Krankenpflege usw. nach ihren jeweils eigenen stofflich-sinnlichen Notwendigkeiten behandelt werden. Es gibt dann kein allgemeines 'Prinzip' mehr (Rentabilität, 'Darstellungsfähigkeit' in der Fetischform Geld), das den gesellschaftlichen Ressourcen-Einsatz bewußtseins-unabhängig steuert." (217 SH)

Bedingt kann man dem zustimmen, daß "die Menschen erst gesellschaftlich 'gemacht werden'..." konnten von "der für alles und jedes gültigen allgemeinen Bewußtseins- und Reproduktionsform", wenn man den Menschen nicht als ein von der Reproduktionsform absolut abhängiges Wesen versteht, sondern ihn als jeglicher Reproduktionsform ursächlich ansieht, die selbst in ihrem ausgeprägten Selbstlauf nur unter Zugabe primär subjektiv-schöpferischer Kräfte kontinuierlich fortschreiten kann. Entscheidend für die neuartige Erweiterung von gesellschaftlichen Reproduktionsformen ist die spontan-geistig-schöpferische Eingebung des Menschen und deren praktische Umsetzung. Aber in der Wechselbeziehung zu einer relativ beständigen Reproduktionsform, Krisen eingeschlossen, gewöhnt sich der Mensch durch Anpassung und Erziehung, werden seine Bewußtseinskräfte mehr und mehr vergesellschaftet und damit eingeengt. Die Behauptung jedoch, daß es jemals ein "allgemeines 'Prinzip'..." gegeben haben soll, "das den gesellschaftlichen Ressourcen-Einsatz" völlig "bewußtseins-unabhängig" gesteuert haben soll, kann nicht aufrechterhalten werden. Damit "Rentabilität, 'Darstellungsfähigkeit' in der Fetischform Geld" wirksam werden, bedarf es einer emotional-schöpferischen Zugabe des Menschen, muß er willentlich die Kräfte in den Dienst der Fetische stellen. Der Fetisch funktioniert nur so lange, wie die Menschen sich emotional-aufschauend an die Illusion und Vorstellung klammern bzw. binden, daß vom entsprechenden Fetisch zumindest für einen persönlich das Wohl und Wehe, das Glück des Lebens abhängig sei - so z.B. von der abstrakten Arbeit. Sobald der Mensch vom Fetisch abhängig ist, kann der Fetisch ihm zur Gewohnheit, zur Heimat im unschöpferischen Sinne werden. Nur so kann ein Automatismus entstehen, der als "allgemeines 'Prinzip' den gesellschaftlichen Ressourcen-Einsatz" scheinbar "bewußtseins-unabhängig steuert". Aber nicht absolut, denn dann wären wir zum Untergang verdammt, könnten niemals dem verantwortungslosen Mechanismus widerstehen, könnten ihn nicht in wahrhaft authentisch-schöpferischer Verantwortlichkeit überwinden. Der Mensch kann sich immer wieder aus seinem wesentlich unbesiegbaren Persönlichkeitsstreben heraus gegen die Vereinnahmung durch einen Gehorsamkeit verlangenden Fetisch, welcher Art auch immer, zur Wehr setzen. Er kann sich bereits gegen die Zumutungen des Automatismus zur Wehr setzen, ohne dabei den Automatismus durchschauen, ohne ihn beseitigen zu können. Und dieses Zur-Wehr-Setzen geschah schon immer innerlich-geistig (bewußter Widerwillen) wie auch äußerlich-praktisch und geschieht ebenfalls bei den Menschen in der westlichen Welt, wenn auch nicht im relevanten, die Gesellschaft umwandelnden Maße, sondern zumeist noch individuell sporadisch, ängstlich zögernd oder auch fanatisch und dabei einem Ersatz-Fetisch aufsitzend, aber mitunter auch tiefgründig und wahrhaft unbestechlich authentisch. Wie sich allerdings die heranwachsenden Computer-Generationen in Zukunft verhalten werden, da in ihrer geistig-ethischen Entwicklung geschwächt, läßt sich wohl nur schwer prophezeien. Dies hängt auch davon ab, inwieweit und wie schnell der innere ökonomische Widerspruch des Kapitalismus kulminiert und ob diese Menschen im Falle eines ökologisch-ökonomischen Desasters dazu in der Lage sind, sich nach Jahren systematischer Entleerung erneut auf ihre authentisch-geistigen Kräfte zu besinnen. Die endgültige Überwindung eines allgemein-destruktiven Automatismus wird letztlich nur gemeinschaftlich möglich sein und muß alle Menschen erfassen - egal wie utopisch dies angesichts des grassierenden Kapitalismus klingt. Die Überwindung ist zugleich an die Realisierung der Persönlichkeit eines jeden Menschen gebunden. Weiter:

"Allgemein könnte gesagt werden, daß das, was bisher bewußtlose Form von Gesellschaftlichkeit war, aufgelöst und durch direkte menschliche Kommunikation in vielfältig organisierter und vernetzter Form ersetzt werden muß. An die Stelle der bewußtlos codierenden 'Form' tritt 'kommunikatives Handeln' (Habermas) der Menschen, die ihre eigene Gesellschaftlichkeit und ihre gesellschaftlichen Handlungsketten bewußt reflektieren und dementsprechend organisieren." (217 SH)

Es bleibt völlig unverständlich, wie die Ebene einer "bewußtlosen Form von Gesellschaftlichkeit" durch eine darauf aufbauende, ausführende Ebene der Kommunikation ersetzt werden kann. "Codierende Form" und "... 'kommunikatives Handeln'... " sind zwei einander bedingende, aber dennoch unterschiedliche Seiten innerhalb eines Handlungsvollzugs, aus dem heraus dann "Gesellschaftlichkeit" entsteht. Die sogenannte "Form", die eine Erstarrung darstellt und nur auf der Grundlage eines benutzten und formverengten schöpferischen Inhalts wirken kann, bestimmt mehr oder weniger, aber niemals absolut, die Kommunikation. Des weiteren stellt auch die Kommunikation an sich überhaupt keine ethische Grundeinsicht dar, sondern ist von dieser inhaltlich abhängig, kann also überhaupt keinen Ersatz für eine "bewußtlos codierenden 'Form'..." abgeben. Deshalb sage ich, "daß das, was bisher bewußtlose Form von Gesellschaftlichkeit" gewesen ist, von einer entsprechend inhaltlich beschränkten Kommunikationsform begleitet wurde und durch eine wahrhaft authentisch-schöpferische Verantwortung ersetzt werden kann, die durch eine inhaltlich befreite, einfühlsam und rücksichtsvoll geführte Kommunikation auf der Basis von primär geistigen Gemeinschaftsbeziehungen verwirklicht wird, Gemeinschaftsbeziehungen, auf die parallel die vorgefundenen und ethisch zu verändernden und ethisch neu zu schaffenden gesellschaftlich-kulturellen und wirtschaftlichen Strukturen und deren Organisation abgestimmt werden. Weiter:

"Längst sind die Konzepte, Einsichten, Ideen und Verfahrensweisen vorhanden, vom Verkehrssystem bis zur Müllentsorgung, die in den einzelnen gesellschaftlichen Reproduktionszweigen den stofflich-sinnlichen Erfordernissen auf der heutigen Höhe von Vergesellschaftung und Produktivkraftentwicklung Rechnung tragen. Aber auf scheinbar unbegreifliche Weise können die von nahezu jedermann geteilten Einsichten nicht in die Tat umgesetzt werden, weil die nach wie vor bewußtlose allgemeine Form, indem sie die 'Autopoiesis' des Systems setzt, ihr gespenstisch gewordenes Eigenleben weiterführt und die Menschen daran hindert, ihren Einsichten gemäß zu handeln." (218 SH)

Robert Kurz sagt es selbst, daß "auf scheinbar [Hervorhebung D. H.] unbegreifliche Weise... die von nahezu jedermann geteilten Einsichten nicht in die Tat umgesetzt werden (können)". Insgeheim begreifen heute schon sehr viele Menschen sehr gut, weshalb vernünftige Einsichten nicht umgesetzt werden. Man weiß um die allgemeine Akzeptanz der starren Kapitalstrukturen und daß sinnvolle Veränderungen fast immer davon abhängig sind, inwieweit sie Kapital- und Finanzinteressen nicht zuwiderlaufen bzw. von diesen gestützt werden. Allenthalben ist von den Leuten zu hören: Geld regiert die Welt. Dies wird eben als eine scheinbar unveränderliche Übereinkunft der Menschen meist noch gleichgültig, aber auch resignierend hingenommen. Und man weiß heute auch, daß die unübersehbaren, unberechenbaren, aufgestauten destruktiven Kräfte des auf das Geld und die abstrakte Arbeit geeichten Menschen der Moderne durch diese (noch funktionierenden) Strukturen im Zaum gehalten werden, weshalb man sich scheinbar genötigt sieht, sie wohl oder übel affirmativ anzuerkennen. ›Der Mensch wird doch verrückt, wenn er nicht (abstrakt) arbeitet.‹ Das will man nicht. Und man weiß auch, daß derjenige Mensch, der sich konsequent und bewußt diesen Strukturen widersetzt, einem Martyrium ausgesetzt ist. Gerade die Menschen der westlichen Hemisphäre scheuen sich vor den unbequemen Konsequenzen, die ein kritisches, nichtverdrängendes Bewußtsein hervorrufen kann und klammern sich deshalb lieber an den Glauben, daß der Kapitalismus das geringste aller Übel sei, d.h. solange sie selbst noch relativ ›gut‹ dabei wegkommen. Geht es z.B. darum, entsprechend der von sehr vielen Menschen geteilten Einsicht, daß die Ressourcen knapp werden und die Natur aus ihrem ökologischen Gleichgewicht katapultiert wird, zumindest den Autoverkehr drastisch zu verringern, eventuell sogar auf das private Auto zu verzichten, verschließen sich die Menschen willentlich vor dieser Einsicht, trennen diese Einsicht willentlich von dem erforderlichen Handlungsbedarf ab und begründen zum Teil scheinheilig die Unmöglichkeit einer Veränderung mit in der Tat auftretenden realen Zwängen, die sich aus der kapitalorientierten Struktur ergeben, welche wiederum mit unterwürfiger Ehrfurcht hingenommen wird. Darüber hinaus will man nun wirklich nicht auf das so liebgewonnene und für so viele Entbehrungen entschädigende Auto verzichten. Es ist auch in diesem Fall nicht primär eine sogenannte "... 'Autopoiesis' des Systems", die verhindert, entsprechend der gewonnenen Einsichten Konsequenzen zu ziehen und zu handeln, sondern aus den vielschichtigen primären existentiellen Inhalten können sich sekundäre existentiell-emotionale Ängste erheben, die sich überhaupt Einsichten, nötigen Veränderungen entgegenstellen bzw. dazu beitragen, daß Einsichten verdrängt oder scheinbar argumentativ wieder widerlegt werden. Verlustängste, die sich an einen Fetisch gebunden haben, spielen hierbei eine wesentliche Rolle, so das Gefühl, Sicherheit zu verlieren, liebgewonnene Dinge, gewohnte Heimatempfindungen (Auto), Geborgenheit aufgeben zu müssen etc., darüber hinaus aber auch die Angst vor drohender Einsamkeit, in die man geraten könnte, wenn man gemäß den Einsichten unangepaßt handelt,- Einsamkeit, in der meist ganz deutlich ein chaotisches, entleertes bzw. unerfülltes Leben zum Vorschein kommt, das sich, bisher vehement, willentlich kompensatorisch verdrängt, mit den Jahren aus einem veräußerlichten, fetischorientierten Leben ergibt. Dennoch, kein Mensch kann endgültig daran gehindert werden, gemäß seinen Einsichten zu handeln. Aber dieses Handeln, konsequent zu Ende geführt, wird in einer Gesellschaft angepaßter und sich fortlaufend anpassender Menschen zum Martyrium, das seitens der sich selbst rechtfertigenden, anpassungsgewöhnten Menschen gerne und oft wütend, mißbilligend als moralisches Versagen verunglimpft und entsprechend sanktioniert wird. Eine durchgreifende echte gesellschaftliche Transformation kann also nur geschehen, wenn möglichst viele Menschen - sich zusammenschließend - gemäß ihren ethisch motivierten und zugleich durch kritisches Beobachten gewonnenen Einsichten und Erkenntnissen handeln. Erforderlich ist letztlich eine schrittweise Erhöhung des existenzrückbezüglichen Bewußtseins aller Menschen. Aber schon der eigene Rückzug aus den gewohnten, angepaßten Bahnen erfordert persönlichen Mut und authentisches Selbstbewußtsein und vor allem geistige Kompromißlosigkeit gegenüber einem verbrecherischen System, und man kann nicht erwarten, daß sich in der Folge unmittelbar echte Gemeinschaft mit den anderen Menschen realisieren läßt, Gemeinschaft, für deren Gelingen es keine Garantie gibt und deren Realisierung einer fortwährenden, vor allem geistigen Anstrengung bedarf auf der Grundlage der existentiellen Wesenkräfte der Persönlichkeiten.

Die Menschen werden natürlich auch massiv daran gehindert, "ihren Einsichten gemäß zu handeln", und in der sogenannten Dritten Welt geht es auch weit weniger um die Bewältigung eines ethisch-moralischen Konflikts in bezug auf das Fetisch-System, sondern nur noch um das pure Überleben. Dennoch, dieses massiv "gespenstisch gewordene Eigenleben" des System ist immer auf den götzendienerischen Beitrag des aktiven und dabei auch Neues schaffenden Menschen angewiesen. Die sogenannte "... 'Autopoiesis' des Systems" ist so lange von Dauer, wie gerade die von diesem System profitierenden Menschen vor sich selbst und den unmenschlichen Folgen solch eines Systems bereitwillig die Augen verschließen, wie sie noch wütend oder zumindest pauschal abwertend eine unangenehme, ›unzeitgemäße‹ Infragestellung dieser Verhältnisse von sich weisen, was darauf hinweist, daß sie sich der Infragestellung schon bewußt sind. Weiter:

"Die eigene Bewußtseinsform gerät in Widerspruch zu den Inhalten des Bewußtseins.

Aber die Geschlossenheit der Fetisch-Konstitution ist keineswegs eine absolute. Zu dicht sind Einsichten und Inhalte auf allen Gebieten des Denkens und Handelns schon an die Grenzen der Form-Unbewußtheit herangerückt, als daß der Widerspruch zwischen Form und Inhalt des Bewußtseins selbst aus dem Bewußtsein ausgeblendet bleiben könnte." (218 SH)

Kurz' Feststellung:

"Die Bewußtseinsform der jeweiligen Fetisch-Konstitution umfaßt alle menschlichen Lebensaspekte." (196 SH),

impliziert zunächst, daß die "eigene Bewußtseinsform" auch die "Inhalte des Bewußtseins" bestimmen; "Inhalte" wären demnach der "Form" permanent unterworfen. Dies kann von Kurz jedoch nicht zugelassen werden, da ansonsten keine Kritik möglich wäre, die "eigene Bewußtseinsform" nicht wirklich "in Widerspruch zu den Inhalten des Bewußtseins" geraten kann. Deshalb widerspricht er kurzer Hand einer "absoluten Geschlossenheit" der "Fetisch-Konstitution", damit letztlich die "Einsichten und Inhalte" des Bewußtseins nun doch wirksam werden können, was schließlich, den notwendigen Systemkollaps begleitend, zumindest zur schrittweisen Überwindung der "Bewußtseinsform der... Fetisch-Konstitution" führen soll. Aber Kurz behauptet fest und steif, daß es

"kein apriorisches Subjekt mehr sein kann, das 'an sich' schon präexistent und hinsichtlich seiner Aufgabe präpotent wäre" (220 SH),

welches somit als fetischüberwindender Träger der "Einsichten und Inhalte" in Frage käme. D.h., auch ein inhaltliches Bewußtsein darf und kann nicht als apriorisches Subjekt auftreten, welches "... 'an sich' schon präexistent und hinsichtlich seiner Aufgabe präpotent wäre". Doch wer soll für die "Einsichten und Inhalte" einstehen? Der Mensch? Aber da es kein Subjekt der Erkenntnis mehr geben wird, selbst "Einsichten und Inhalte" im Bewußtsein

"keinen apriorischen positiven Maßstab" (129 Tr)

abliefern können, erübrigt sich auch die Frage nach des Menschen authentischer Selbsterkenntnis, Selbstbestimmung und Verantwortlichkeit, nach dem originären Gewissen, der Freiheit überhaupt. Der Mensch wird unbestimmbar - eine farblose, unklare Gestalt. Ein von allen apriorischen, im Sinne von grundlegend-schöpferischen Kräften absolut befreites Bewußtsein muß ein absolut unfreies Bewußtsein sein, das sich irgendwie von aufdrängenden "Einsichten und Inhalten", wie auch immer entstanden und/oder vorhanden, nährt, die man dann in diesem Fall wiederum auch als Fetische des subjektbefreiten ›menschlichen‹ Bewußtseins bezeichnen könnte. Darüber hinaus stellen "Einsichten und Inhalte" immer auch Wertungen dar, von der die ›kritische‹ Bewußtseinsaktivität auf Gedeih und Verderb abhängig ist. Die ›kritische‹ Bewußtseinsaktivität wiederum liegt entsprechend des eigenen Anspruchs maßstabfreien Agierens in endlosem Clinch mit einem sich aufdrängenden Maßstab in der ›Form‹ von "Einsichten und Inhalten". Kurz gerät mit seiner Forderung nach "Aufhebung des Subjekts" deutlich in einen erkenntnistheoretischen Wirrwarr. Weiter:

"Dies zeigt sich nicht nur im sozialökologischen Krisenbewußtsein. Auch hinsichtlich der Freudschen 'psychischen Provinzen' hat sich eine Veränderung vollzogen. Die Mechanismen des Unbewußten und ihre Reflexion (etwa die Begriffe der 'Verdrängung' und der 'Projektion') sind aus der Wissenschaft in das allgemeine Bewußtsein gedrungen, wenn auch oft in verwässerter und vulgarisierter Gestalt. So unmittelbar und naiv wie noch vor wenigen Generationen können sich die Durchschnittsmenschen heute nicht mehr zu sich selbst verhalten. Damit aber zeichnet sich eine Perspektive ab, in der das 'Unbewußte' langsam (wenn auch widersprüchlich und heute noch instrumentalistisch) abgeschmolzen wird und ein Prozeß beginnt, in dem bisher verborgene psychische 'Provinzen' des Es ganz alltäglich ins Licht des erscheinenden Bewußtseins geholt werden." (218/219 SH)

Kurz' beharrliches Ablehnen der Möglichkeit,

"daß, die Negation [als kritische Methode - D. H.] ihrerseits schon auf einen positiven Zustand, einen ontologischen Grund, eine Wesenbestimmung aufbauen könnte" (129 Tr),

führt zu einer Einebnung der komplexen Ursachen der kapitalorientierten Destruktivität auf eine alles bestimmende "Fetisch-Konstitution". Das sich die "Durchschnittsmenschen" "so unmittelbar und naiv wie noch vor wenigen Generationen... heute nicht mehr zu sich selbst verhalten" können, läßt sich plausibel auch auf ein nunmehr verstärkt hervortretendes grundlegendes ethisches Vermögen des Menschen zurückführen, welches Kurz offensichtlich ebenfalls kategorisch ablehnt. Das kommt auch daher, weil Kurz Kants "kategorischen Imperativ" mit einem so bezeichneten "ethischen Prinzip" identifiziert:

"... den 'kategorischen Imperativ' als die 'bloße Form eines allgemeinen Gesetzes', d.h. als ethisches Prinzip für alle menschlichen Handlungen." (194 SH)

Doch ethische ›Prinzipien‹ können auch völlig anders, personal-subjektiv-lebendig bzw. existenzrückbezüglich als ethische Wesenskräfte, als ethisches Vermögen erfahren werden und nicht als starre allgemeingültige moralische Vorschriften. Dieses ethische Vermögen ist generell ein gemeinschaftsorientiertes und wird erst im transzendierenden Bezug zu den anderen Menschen, zu den lebenden Wesen und zu den Dingen der Welt ganzheitlich-integrierend wirksam. Dieses Vermögen wird getragen durch die den Menschen wesentlich ausmachende und sich in ihm offenbarende göttlich-menschliche Intuition. ›Göttlich-menschlich‹ meint, daß die "Wesensbestimmung" das Menschliche als das Göttliche bzw. das Göttliche als das wahrhaft Menschliche beinhaltet. In der tiefen Liebe zu einem anderen Menschen dringe ich zu seinem wahrhaft menschlichen Wesen vor, welches ich intuitiv als göttliches empfinde. Das sind nicht nur beschönigende oder gefühlsduselnde Worte oder untergeordnete Randerfahrungen der Liebe, sondern dahinter steht eine existentiell reale, äußerst starke Empfindung, für die der Mensch im Extremfall seine ganze Person vom tiefsten Herzen her hingeben kann. Wahre, d.h. authentische Liebe eines Menschen ist tragisch, weil sie als eine außergesetzliche, auf geistiger Freiheit beruhende Realität sich stets im Konflikt mit einer tendenziell zur Erstarrung, zur Gesetzlichkeit neigenden Welt, Gesellschaft etc. befindet. Deshalb stellt der ganzheitlich liebende Mensch eine Gefahr für eine scheinbar wohlgeordnete, für eine sich auf bequem-anonyme Systemregulation verlassende bürgerliche Welt dar, weil er ihr zuwiderläuft. Dennoch ist auch die Liebe selbst zwiespältig. Zum einen kann der liebende Mensch über die Grenzen der Welt hinausgelangen, indem er zumindest partiell ihre restriktiven Forderungen mißachtet und diese im Sinne seiner Liebe beseitigt, zum anderen kann er über eine verzehrende Liebe die Welt vernachlässigen und den ganzheitlichen Bezug zu ihr verlieren. Wenn ein Mensch durch seine Liebe in der Welt schöpferisch-verändernd wirksam wird, kann dies von den anpassungsorientierten Menschen als äußerst störend empfunden, als weltfremdes Agieren abgetan oder gar entsprechend der jeweiligen Fetischorientierung restriktiv bekämpft werden. Die Liebe ist tragisch, weil sie eine Ereignis ist, das sich von dem gewöhnlichen, alltäglichen Leben, welches im starken Maße den Erfordernissen einer manifesten und objektivierten Welt Rechnung trägt, grundlegend unterscheidet und den Menschen dazu drängt, dieses gewöhnlich-alltägliche Leben zu überwinden. Doch letzteres birgt in sich die Gefahr, daß der Drang zur Überwindung in eine fanatische Abwendung von den unvermeidlichen Erfordernissen des alltäglichen Lebens übergeht, was einer ganzheitlichen Verantwortung des Menschen gegenüber dem Leben und der Liebe nicht gerecht wird. D.h., der Mensch muß sein Leiden in der und um die konkret erlebte Welt in jederlei Hinsicht schöpferisch austragen auf der Grundlage seiner authentischen geistig-freiheitlichen Liebe. Die Liebe ist ihrem Wesen nach eine antinomisch erlebte Wirklichkeit der gemeinschaftsorientierten Persönlichkeit, sie ist ein Streben nach einer anderen, höheren Welt der gemeinschaftlichen Fülle des Lebens, in der sich die Wahrheit und Freiheit zu ereignen vermag und kann nur wirksam und erlebt werden durch ein fortwährendes ganzheitlich-schöpferisches Einbeziehen und Integrieren einer auch niederen, alltäglichen, manifest-objektivierten Welt. In diesem Zusammenhang weise ich mit ›höhere‹ und ›niedere‹ Welt ausschließlich auf deren jeweilige Rangfolge für die menschliche Bestimmung hin und nicht einerseits auf eine herrschaftliche und anderseits auf eine zu verachtende und zu vergeudende, scheinbar minderwertige manifeste Welt. Denn gerade die kapitalorientierte, überhebliche Verachtung und Vergeudung unserer manifesten Lebensgrundlagen stellt ja gegenwärtig eine große Bedrohung eben insbesondere für das menschliche Leben dar und kann nicht im Sinne einer liebevoll-integrativen Einbindung der manifesten Welt sein.

Wenn Kurz sagt:

"Der Schlüsselbegriff für das Verständnis des 'Dritten' und eigentlich Konstitutiven kann nur der Begriff des Unbewußten sein" (190 SH),

so wird klar, daß die erlösende "Perspektive" für ihn nur darin bestehen kann, das "Unbewußte" "abzuschmelzen". Das Bestimmende des ›Fetisch-Menschen‹ wird auf eine "Fetisch-Konstitution" innerhalb des "Unbewußten" reduziert. Die subjektiv-existentiell sehr realen Erfahrungen des Menschen eines fortwährend schöpferischen Entstehens und Hervorbrechens primär ganzheitlich-intuitiver und sekundär-destruktiver Kräfte, die einen nichtbewußten, unerschöpflich potenzgeladenen Quellgrund, die Freiheit, zur Grundlage haben, spielen in der Charakterisierung des "Unbewußten" für Kurz keine Rolle, werden von ihm ignoriert, denn er lehnt ja jeglichen "positiven Maßstab", eine grundlegende "Wesensbestimmung" ab. Meines Erachtens kann jedoch eine wirkliche Perspektive nur darin bestehen, eine zum Teil unter Verschluß gehaltene und zum Teil verdrängte Gegensätzlichkeit des sogenannten ›Unbewußten‹ zum auch anerzogenen (Rollen-) Bewußtsein abzubauen und letztlich zu beseitigen. Das ›Unbewußte‹ muß zum integrierten Bestandteil des innerlich freien, selbstbewußten Menschen werden. Der Mensch muß sich, solange er lebt, seinen fortwährend zu Bewußtsein kommenden unstillbaren existentiellen Kräften stellen, destruktive Kräfte und Kräfte, die sich destruktiv wenden können, schöpferisch überwinden bzw., wenn möglich, sublimierend, umwandelnd den elementarsten geistig-ganzheitlich-intuitiven Wesenskräften, d.h. der geistigen Freiheit, der Liebe, dem originären Gewissen, dem Mitgefühl und Mitleid etc. und dem Gemeinschaftsstreben zugleich zuführen, damit die Kräfte von hier aus ganzheitlich-ethisch in der konkreten Beziehung zum anderen und nun nicht mehr fremden Menschen, zum Tier, zu den Pflanzen, zur Welt überhaupt, wirksam werden können. Die existentielle Wahrheit wird individuell als Erwachen und fortwährende Erweiterung der zu sich selbst kommenden, gemeinschaftsorientierten Persönlichkeit erlebt. Diese Wahrheit ist zum einen an ein durchlässiges personales Bewußtsein geknüpft, welches aus einem unermeßlichen unbewußten Quellgrund integrierend schöpft und sich zugleich transzendierend zur Welt im weitesten Sinne bezieht, zum anderen an Zeit, an einen geschichtlichen Prozeß, geschuldet den Erfordernissen sowohl der sekundär-manifesten Welt der Objekte als auch eines komplexen gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Dagegen führt die "Perspektive", "in der das 'Unbewußte' langsam... abgeschmolzen wird", zu einer Verlegung des geistigen Menschen an die Oberfläche eines verflachenden Lebens, in welchem der Mensch automatisch in eine Fetischabhängigkeit zu den Dingen und Prozessen einer Welt der Objekte geraten muß, um irgendwo Halt zu finden.

"Damit aber zeichnet sich eine Perspektive ab, in der das 'Unbewußte' langsam... abgeschmolzen wird und ein Prozeß beginnt, in dem bisher verborgene psychische 'Provinzen' des Es ganz alltäglich ins Licht des erscheinenden Bewußtseins geholt werden." (219 SH)

Demnach sind das "psychische 'Provinzen'...", was nicht zur "blinden Form-Konstitution des Bewußtseins" gehört. Das Wort "Provinzen" verweist auf den untergeordneten Charakter der dem "Unbewußten" anhaftenden geistigen Epiphänomene. Sie werden "ganz alltäglich ins Licht des erscheinenden Bewußtseins geholt". Nur, was fängt ein "erscheinendes Bewußtsein" mit den "Provinzen" an? Nach welchem "Maßstab" findet ihre Zuordnung statt, oder sind diese "Provinzen" etwa mit psychischen "Inhalten" identisch, die an die Stelle der "Form-Konstitution" rücken? Gemäß der Behauptung:

"Diese Negativität der Befreiung ist eine Befreiung zum unbefangenen Umgang mit der Eigenqualität der Inhalte aller Art." (122 Tr)

Gibt es also doch einen "Maßstab" als "Eigenqualität der Inhalte"? Das Problem dabei ist nur: Welche Inhalte sind die entscheidenden für unsere Selbsterkenntnis, die auf unser Handeln zurückwirkt, wenn es einen Sinn haben soll, wenn es stattfinden soll als nicht absolut entfremdetes? Denn ein Mensch ohne Selbsterkenntnis (Selbstbestimmung) wäre ein absolut fremdbestimmter Mensch. Es muß also ganz besondere Inhalte geben, die als wesentliche Eigenschaften des Menschen, den Menschen als solchen erkennen lassen. Und mit diesen Inhalten läßt sich auch nicht "unbefangen umgehen", denn sie sind selbst der ursprüngliche Ausgangspunkts jeglichen transzendierenden und unbefangenen Umgangs, es sind die wesentlichen Inhalte des Menschen als Persönlichkeit, Inhalte, aus denen heraus sich primär die bewußte geistig-existentielle Beziehung zur Welt überhaupt ereignet. In diesem Zusammenhang erhellt sich auch die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung, die keinen Meta-Standpunkt im Verhältnis zum Persönlichkeitssubjekt verlangt (was von der abstrakten Logik des Denkens nicht akzeptiert wird, da es ihren Prinzipien widerspricht und ausschließlich nur durch existentielle Erfahrung verifiziert werden kann). Sondern authentische Selbstbeobachtung erhebt sich unmittelbar aus dem Prozeß der ganzheitlichen Persönlichkeitsrealisierung, ist ein Aspekt von ihr, befindet sich mit ihr auf ein und derselben Tiefenebene. Authentische Selbstbeobachtung kann nur unmittelbar im Akt des Transzendierens, der Bezogenheit der Persönlichkeit existentiell vollzogen werden und würde augenblicklich erlöschen, sobald sich die Persönlichkeit völlig aus aller Bezogenheit herausnehmen und in sich selbst als egozentrisches Nichts vergraben würde. In der buddhistischen Leere-Meditation z.B. wird dies versucht, indem man danach trachtet, das Ich-Bewußtsein zu überwinden; absolut möglich ist dies jedoch nicht, zumindest solange der Mensch noch lebt, und er lebt nur dann, wenn er auch ein ursprüngliches Ich-Bewußtsein hat, welches die Beziehung zur Welt herstellt. Vertreter buddhistischer Leere-Meditation behaupten dennoch, daß die Überwindung des personalen Ichs möglich ist. Ich gebe ihnen recht, sofern damit ein nichtmenschlicher, unlebendiger, geisttötender Zustand erreicht wird. Die Leere-Meditation hat in meinen Augen jedoch dann eine Berechtigung, wenn sie einerseits als ein schmerztherapeutisches Instrumentarium dazu dient, das Leiden kranker Menschen mildern zu helfen, und wenn sie andererseits als ein begrenzter sekundärer Moment des Heraustretens aus der Rastlosigkeit des Lebens hinübergleitend dazu führt, eine schöpferisch kräftesammelnde, ganzheitlich orientierte Kontemplation für ein gemeinschaftliches Leben zu eröffnen. (Siehe auch meinen ersten umfangreicheren Versuch einer Kritik unter anderem gerichtet gegen einen erfolgsorientierten westlichen Wohlstandsbuddhismus:

N. Berdjajew kontra K. Wilber.)

Und wie sollte sich beispielsweise die "Provinz" mit einem, sagen wir, durch Eifersucht ausgelösten aggressiven Inhalt ganz "alltäglich" im "Licht des erscheinenden Bewußtseins" darstellen? Diese Aggression ist einfach keine ganz alltägliche psychisch-seelische Geistesverfassung, auch wenn sie häufiger vorkommt. Müssen etwa Momente der Aggressivität entsprechend der "Eigenqualität der Inhalte" ausgelebt werden? Das würde nicht wirklich einen Sinn machen. Die Persönlichkeit begreift sich vor allem auch aus einem ethisch-schöpferischen Gewissen heraus, mit dessen Hilfe sie sich einer hervorbrechenden Aggression entgegenstellen und, unter Zuhilfenahme der Verstandeskräfte, diese leidenschaftlich-schöpferisch relativieren bzw. überwinden kann. Die Persönlichkeit kann sich im Vollzug des Lebens, durch Bewältigung von Hindernissen und Widerständen, durch die konkrete Auseinandersetzung mit existentiell gegenläufig-destruktiven Tendenzen bzw. Erscheinungen, ihrer Wesenskräfte, insbesondere der schöpferisch-ethischen und diese dabei gleichzeitig erweiternd und vervollkommnend, immer mehr bewußt werden. Die Persönlichkeit wächst und erstarkt letztlich durch ihr schöpferisches Wirken für die und in der Gemeinschaft, was ein schöpferische Selbsterkenntnis umfaßt, welche wiederum auch die Auseinandersetzung mit dunklen destruktiven Tendenzen nicht scheut. Weiter:

"Umgekehrt beginnt auch das Über-Ich seine Autonomie einzubüßen. Auch für das Alltagsbewußtsein ist eine blinde Orientierung an vorausgesetzten und von Kindheit an eingetrichterten Mustern immer weniger akzeptabel. Moralische, politische und kulturelle Normen müssen es sich gefallen lassen, auf ihre Tragfähigkeit und Plausibilität hin geprüft und analysiert zu werden. Tendenziell verschwindet das alte automatische Über-Ich. Sogar die Sprache ist nicht mehr als codierendes System gegen Reflexivität immun." (219 SH)

Das Erstarken der Persönlichkeit schmelzt auch das Über-Ich ab, aber eine Autonomie des Über-Ichs hat es so nie gegeben. Immer spürte der Mensch einen Rest Freiheitsdrang in sich, der eine absolute Autonomie der Fremdbestimmung unmöglich macht. Auch das Über-Ich muß durch eingebundene schöpferische Kräfte genährt werden. Es bedient sich dieser Kräfte, um bestehen zu können. Und was kennzeichnet ein "Alltagsbewußtsein"? Wie soll dieses zur Bewertung einer "blinden Orientierung" fähig sein? Kurz unterschiebt dem Alltagsbewußtsein, das seine Berechtigung hat, sofern es das Leben nicht bestimmt, plötzlich eine Fähigkeit, die ihm nun wirklich nicht zukommt, weil gerade das Alltagsbewußtsein voller Vorurteile steckt und damit eine tendenziell automatische, geistig-gewohnheitsmäßige Bewältigung des Lebens (-alltags) ermöglicht und vollzieht. Auch das Alltagsbewußtsein spielt immer nur eine untergeordnete Rolle, deren Ausmaß und Charakter abhängig ist entweder von der fremdbestimmten oder der selbstbestimmten Verfassung des Menschen. Eine "blinde Orientierung" ist einzig und allein eine bewußt erfahrene Zumutung für das Persönlichkeits-Ich, das sich auf einer entschieden tieferen bzw. höheren Ebene befindet und das tendenziell starre Alltagsbewußtsein schöpferisch-ethisch durchbrechen kann. Aber auch eine destruktive Antwort auf die Zumutungen der "blinden Orientierung" ist möglich, und zwar dann, wenn der Mensch die Realisierung seiner Persönlichkeit als zu schwierig empfindet und ebenfalls als Zumutung ansieht und ablehnt. D.h., die Persönlichkeit ist zwar der ursprünglichste Ausgangspunkt des Widerstandes, aber auch deren Realisierung ist mit Anstrengung verbunden, die authentische schöpferisch-ethische Wesenskräfte verlangt. Die destruktive Antwort eines Menschen dagegen lehnt sich gegen alles auf: Im Extremfall will er sich letztlich zu nichts und niemandem und vor allem nicht zu sich selbst bekennen, ist absolut "negatorisch" orientiert, sieht überall nur Fremdheit und Feindschaft. Die Nazis haben dieser Destruktivität im starken Maße entsprochen, aber auch sie mußten sich des Zuspruchs einer hochgradig illusionären völkischen National-›gemeinschaft‹ versichern, um nicht das Gefühl zu bekommen, absolut zu vereinsamen und verrückt zu werden.

Sollen nun etwa "moralische, politische und kulturelle Normen" auf den Prüfstand der "Plausibilität" eines gewohnheitsmäßigen "Alltagsbewußtseins" gehoben werden? Denn eine unverbindliche "Plausibilität" kann es nicht geben. Und noch niemals war Sprache gegen "Reflexivität immun". Schon immer hat sie sich gewandelt, konnte von keinem starren Gerüst festgehalten werden. Wenn sich heutzutage die Sprache im Sinne der kapitalorientierten Ökonomisierung wandelt, so wandelt sie sich eben dennoch. Reflexivität kann sich genausogut einer kapitalorientierten Ökonomie verschreiben und von dieser ausgehend ihre Bewertung vornehmen. Dabei werden auch schöpferisch neue Sprachmuster entwickelt. Weiter:

"Die feministische Sprachkritik und bewußte Implementierung neuer Sprachregelungen, von denen die 'männliche' Codierung außer Kraft gesetzt wird, ist keineswegs so albern, wie gewisse (männliche) Sprach- und Theoriemonopolisten es gern hingestellt hätten. Vielmehr deutet dieser Vorgang den Beginn eines Prozesses an, in dem nicht mehr 'der Mensch gesprochen wird', sondern die Menschen auch auf ihre Sprachentwicklung bewußten Einfluß nehmen (und nicht nur bestenfalls die bewußtlos vollzogenen Veränderungen im nachhinein feststellen können). Ähnliches gilt für die Kritik anderer (z. B. rassistischer) Sprachregelungen." (219 SH)

Eine "... 'männlich' (codierte)" "Sprachregelung" wird also durch eine ›weiblich codierte‹ "feministische Sprachkritik" "außer Kraft gesetzt", die ihrerseits "bewußte Implementierung neuer Sprachregelungen" einführt. Was hat sich denn nun prinzipiell geändert? Nichts. Geändert hat sich der Hintergrund der "Sprachregelung", und man kann Robert Kurz zustimmen, daß dies "keineswegs so albern", sondern auch sehr wichtig ist und Veränderungen im wahrhaft ethischen Sinne bewirken kann. Aber auch feministisch orientierte Sprachregelungen können fanatisch zugespitzt, können zum Fetisch werden wie alles. Entscheidend ist, daß der Mensch aus seinem Persönlichkeitssubjekt heraus auf die Sprachregelung schöpferischen Einfluß ausübt und eine fetischorientierte Erstarrung bzw. Fanatisierung der Sprache verhindert. Der Mensch ist dazu jedoch erst wirklich in der Lage, wenn er überhaupt für sein Leben ein Mindestmaß an ganzheitlicher, existenzrückbezüglicher, schöpferischer Verantwortung übernommen hat. Eine nicht geringe Anzahl literarischer und philosophischer Werke legt Zeugnis davon ab, daß dies schon früher mehr oder weniger einigen Menschen gelang.

Und noch nie wurde "der Mensch gesprochen" im absoluten Sinne. Aber kritisch ist zu konstatieren, daß unter den Bedingungen der Moderne eine verarmte, technisierte und gefühlskalte Sprache um sich greift, die ein Licht auf die Verfassung der Menschen und ihre Lebensgestaltung wirft. D.h., das, was der Mensch nicht fremdbestimmt spricht, hat zur Zeit an Kraft verloren. Und selbst wenn die Menschen nur noch "bestenfalls bewußtlos vollzogene Veränderungen [der Sprache - D. H.] im nachhinein feststellen können", so zeugt dies dennoch davon, daß in ihnen wenigstens noch ein Rest eigenen Urteilsvermögen, eigener "Reflexivität" vorhanden ist.

 

Neben der Forderung nach einem "unbefangenen Umgang mit der Eigenqualität der Inhalte aller Art" bezieht sich Robert Kurz immer wieder auf einen bewußten Akt, den die Menschen zu leisten hätten, um die "Subjekt-Objekt-Dichotomie" quasi abwerfen zu können. In diesem Zusammenhang fällt auch der Begriff "Bewußtheit", die er als "gesellschaftliche Selbst-Bewußtheit" positiv anruft:

"Der zweite Mensch kann im Gegensatz zum ersten nicht 'entstehen', sondern er muß sich selbst bewußt schaffen. Er muß Bewußtheit gegenüber seiner eigenen Gesellschaftlichkeit gewinnen, wie er in der ersten Konstitutionsgeschichte zunehmende Bewußtheit gegenüber der ersten Natur gewonnen hatte. Bewußtheit anderer und höherer Ordnung freilich, denn Bewußtheit als Selbst-Bewußtheit ist etwas grundsätzlich anderes als bloße Kontrolle oder 'Herrschaft' gegenüber Naturdingen. Da die relative Bewußtheit gegenüber der ersten Natur erkauft war durch die Fetisch-Konstitution der zweiten Natur, wurde deren Bewußtlosigkeit als Rückkoppelung auch in der bewußten Subjektbeziehung gegenüber der Objekt-Natur wirksam. Wenn jetzt auch der gesellschaftliche Selbstbezug 'durch den Kopf hindurch muß', dann kann dies keine mechanische Wiederholung der Subjektwerdung gegenüber der ersten Natur sein. Die gesellschaftliche Selbst-Bewußtheit wird also auch den Naturbezug grundsätzlich verändern, wobei 'Kopf' hier nicht als Gegensatz zu 'Bauch' bzw. Gefühl zu verstehen wäre, sondern als Bewußtheit, von der die Gefühlsebene eingeschlossen wird." (210/211 SH)

Gefühl ist aber nicht nur Bauch, sondern auch Herz. Das Herz symbolisiert Mitleid, Mitgefühl, Liebe, Vertrauen, Zuwendung usw. Man sagt, daß man mit Herz und Verstand handeln soll, was meint, daß das Herz richtungsbestimmend an die erste Stelle gehört und Verstand dafür integrativ einzubinden ist. Bei Kurz jedoch stellt es sich umgekehrt dar. Vom Kopf her als "Bewußtheit" soll das Gefühl, welches er aufschlußreich nur dem "Bauch" zuordnet, eingebunden werden und dadurch erst die genügende Substanz erhalten. Also wieder ein Rest "männlich westlich-weißer" Überhebung?!

"Bewußtheit", gespickt mit etwas Bauchgefühl, wird zum höchsten (geistigen) Wert erhoben, um die Dinge und Verhältnisse, die aus dem Ungewissen kommen und als völlig wertfreie und doch irgendwie inhaltliche Prozesse die Menschen überfällt, wahrscheinlich nach zu beseitigenden Widersprüchen zu regeln. Nur wie erkennt man die Widersprüche, will man nicht einer lieblosen, rein "männlich westlich-weißen" Logik das Wort reden? Dazu kommt man an einer befreienden Ethik, die existenzrückbezüglich, wie oben schon erklärt, errungen werden kann, nicht vorbei. Damit der Mensch "sich selbst bewußt schaffen" kann, was auch ich für ein oberstes Gebot halte, reicht es nicht aus, wenn er sich dazu allein auf eine völlig unkonkrete "Bewußtheit" beruft. Er muß in den Wesensprozeß seines Menschseins eindringen, welchen ich grundsätzlich als eine sich im Menschen vollziehende "Existentielle Dialektik des Göttlichen und Menschlichen" (Berdjajew) begreife. Dazu benötigt der Mensch auch Verstandeskräfte, aber diesen allein, für sich genommen, geht jegliche Orientierung ab, sie existieren gar nicht außerhalb eines Bezugs. Das Eindringen in das Wesen seines Menschseins ist primär ein Erkunden und Schaffen existentieller Wahrheit, Liebe und Freiheit, es ist die Realisierung des Persönlichkeitssubjekts in der Gemeinschaft von Menschen, es ist grundsätzlich ein Bestreben, in allen persönlich-konkreten Beziehungen zu den lebenden Wesen und den Dingen der Welt Gemeinschaft zu erringen unter ganzheitlicher Einbindung unabdingbarer und dennoch sekundärer Verstandeskräfte. Doch es ist ein Trugschluß, zu meinen, die Realisierung des Persönlichkeitssubjekts in der Gemeinschaft führe letztlich zur absoluten Harmonie im Leben. Vollkommene Harmonie wäre Stillstand, das Ende jeglicher Bewegung und somit jeglichen Lebens. Der Mensch als Persönlichkeit, als ganzheitliche Konkretisierung geistiger und natürlicher Beschaffenheit wird sich immer, solange er existiert, mit Widersprüchen im Leben auseinandersetzen müssen. Es ist des Menschen Bestimmung, im Sinne wahrer, fortwährend zu erweiternder Menschlichkeit, die der Mensch schon seit seinem Erscheinen zumindest schwach in sich trägt, die Widersprüche in der Welt zu überwinden. Aber der Akt des Überwindens von Widersprüchen kann nur bedingt auf vergangenen Erfahrungen, auf schon Errungenem aufbauen. Im Grunde verlangt jeder zu lösende Widerspruch eine gänzlich neue, schöpferische Antwort, um der konkreten Einzigartigkeit eines jeden Lebensmoments, der Bewältigung des Lebens als eines ganzheitlichen gemeinschaftlichen Prozesses gerecht werden zu können. Und da das Leben, die existierende Welt überhaupt, niemals in absoluter Bewegungslosigkeit verharren kann, werden auch immer wieder neue Widersprüche entstehen, die neue Fragen aufwerfen, die wiederum eine neue Antwort verlangen. Doch primär verlangt die Lösung von Konflikten und Widersprüchen im Leben eine innerlich-bewußte Grundeinsicht (Liebe, Gewissen, Leiden, Mitleid usw.), die sich geistig-existenzdialektisch aus der Verwirklichung der ganzheitlichen Persönlichkeit ergibt, über die eine schöpferisch-ethische Beziehung zur Welt hergestellt werden kann. Leider ist es heute aber so, daß der vom persönlichkeitsgeschwächten Menschen miterschaffene und geschaffene Kapitalismus dem Menschen einen Götzen, einen Fetisch mehr oder weniger aufzwingt, der den Menschen in einem Zustand relativer Form-Erstarrung seines Lebensvollzuges bzw. in einem formerstarrten, den Menschen veräußerlichenden Prozeß gefangenhält, was insbesondere seinen Ausdruck sowohl in der physischen als auch geistigen Arbeit, aber auch in der sogenannten Freizeitgestaltung findet. Der persönlichkeitsgeschwächte Mensch will nichts von einer schöpferisch-authentischen Bestimmung wissen, weil diese unbequem, lästig, seinen liebgewonnenen Fetisch-Gewohnheiten und Fetisch-Ansprüchen zuwiderläuft. Die warenfetischorientierten Menschen, sofern sie nicht aus dem Konkurrenzsystem herausgefallen sind, haben einerseits zwar zunächst, vordergründig den Eindruck, daß ihr Leben nur so vor Lebendigkeit strotzt, vor allem ausgelöst durch die immer noch fortlaufend kapitalistisch sich erweiternde äußerliche Arbeits-, Freizeit- und Konsumaktivität, die von einer immer auch noch extensiv fortschreitenden Technisierung der Lebenswelt begleitet wird; doch andererseits spüren die Menschen im existentiellen Hintergrund, da wo das eigentliche Leben als geistig-personales und gemeinschaftliches Leben primär gelebt wird, gleichzeitig eine innerliche Entleerung, eine Zunahme inneren Chaos, innerer Leblosigkeit und Unerfülltheit. Der Kapitalismus wirft den Menschen wesensbedingt an die Oberfläche seiner Existenz, verbraucht mit den Jahren dessen Lebensenergie für den kapitalorientierten Veräußerlichungsprozeß und führt somit in der Folge zu einer Minimierung und Schwächung wahrer Menschlichkeit und der entsprechenden existentiellen Wertefähigkeit, des authentischen Gewissens, das einer völlig anderen Dimension, einer geistig-ursprünglichen Welt angehört im Gegensatz zum fetischorientierten Wertedenken der Menschen in der Warengesellschaft. Die Schwächung des authentischen Gewissens hat unweigerlich innermenschliches und gesellschaftlich-soziales Chaos zur Folge. In der Atmosphäre des Kapitalismus neigen die Menschen dazu, ihre gottgegebene Gabe ursprünglicher Menschlichkeit zu verraten, zu verdrängen, zu verlieren. Statt dessen bricht aus den Tiefen ihres Daseins oft eine wütende Unmenschlichkeit hervor. Sollte diese Tendenz obsiegen, wäre die Menschheit verloren, nicht mehr existent, auch wenn sie körperlich als eine Meute von Unwesen noch eine Weile dahinvegetierte. Ich halte jedoch ein völliges Versiegen der gottgegebenen Gabe ursprünglicher Menschlichkeit für nicht möglich. Ansonsten wären wir schon längst von der Erdoberfläche verschwunden.

"Wenn jetzt auch der gesellschaftliche Selbstbezug 'durch den Kopf hindurch muß', dann" kommt es darauf an, wie das Gesellschaftliche im Kopf bewertet wird, entweder als etwas Höheres, Allgemeines, dem man blind folgt oder knechtisch-bedingungslos Folge zu leisten hat (z.B. als kollektives Bewußtsein), oder als ein Teil meiner Persönlichkeit, in den hinein ich mich eben als Persönlichkeit transzendierend, liebend, schaffend einbringe und verwirkliche, ohne diese preiszugeben, sondern mich auf ihren universellen, nicht allgemeinen, Gehalt/Inhalt berufend, den jeder Mensch frei in sich trägt und zur Fülle des (existentiellen) Lebens erheben kann, sofern ihm die Gemeinschaft insbesondere mit anderen Menschen gelingt. (Zur Vermischung des Universalen mit dem Allgemeinen siehe auch das Zitat ›Berdjajew 27‹ in: Nikolai Berdjajew kontra Ken Wilber.) Wenn man aber meint, daß der "gesellschaftliche Selbstbezug" einer subjektiv-geistigen Bewertung nicht bedarf, überantwortet man den dann subjektlosen Menschen automatisch einer absoluten gesellschaftlichen Fremdbestimmung, die natürlich, genauer betrachtet, nur möglich ist, wenn eine "gesellschaftliche Selbst-Bewußtheit" durch ein existierendes Subjekt der Erkenntnis, auf das schon das Wort "Selbst" verräterisch hinweist, verinnerlicht wird.

"Aber Aufklärung, Naturwissenschaft und Industrialisierung sind nur Momente der allgemeinen Warenform und ihrer Fetisch-Konstitution, die in sich die bisherige Menschheitsgeschichte und das Problem der Fetisch-Konstitution überhaupt einschließt und erstmals global verallgemeinert. Das Subjekt der Moderne, das alle bisherigen Subjektformen in sich aufgehoben hat, ist sich ebensowenig wie alle früheren Gestalten des Subjekts seiner eigenen Form bewußt; es repräsentiert sozusagen die höchste Form der Form-Bewußtlosigkeit.

Damit läßt sich die allgemeine Bestimmung angeben: Ein Subjekt ist ein bewußter Aktor, der sich seiner eigenen Form nicht bewußt ist. Genau diese Form-Bewußtlosigkeit aber ist es, die den bewußten Handlungen gegenüber der ersten Natur und gegenüber den anderen Subjekten einen unsichtbaren objektiven Zwangscharakter auferlegt; die durch vergangene Handlungsketten hindurchgegangene Objektivierung ist dem Subjekt bereits blind vorausgesetzt. Die Bewußtheit beschränkt sich also auf die einzelne Handlung, die im Unterschied zum Tier nicht blind gesteuert ist, sondern 'durch den Kopf hindurch muß'. Vom Bewußtsein nicht erfaßt wird dagegen der allgemeine gesellschaftliche Handlungsrahmen, der historisch 'entstanden' ist und blind vorausgesetzt wird. Die Bewußtheit ist also eine bloße Binnenbewußtheit innerhalb einer Fetisch-Konstitution, die aber, und das markiert den entscheidenden Unterschied zu Strukturalismus/Systemtheorie bzw. zu verkürzten Auffassungen des Fetisch-Problems, nichts Äußerliches, sondern die Form des eigenen Bewußtseins selber ist." (197/198 SH)

Ich frage mich in diesem Zusammenhang immer wieder, was passiert denn da im Kopf, um die "einzelne Handlung" ausführen zu können, die "... 'durch den Kopf hindurch muß'...", die mit "Bewußtheit" und "nicht blind gesteuert" wird? Wie steuert die "Bewußtheit", wenn auch "Binnenbewußtheit", die "einzelne Handlung"? Etwa ganz nach den Erfordernissen ("Inhalten") der vorgefundenen Gegenstände? Dann wäre die "Bewußtheit" von diesen absolut abhängig und bestimmt. Oder entsprechend der den "inhaltlichen" Erfordernissen gewonnenen "Einsichten"? Aber auch diese "Bewußtheit" wäre dann ganz den auf die "inhaltlichen" Erfordernisse reduzierten "Einsichten" angepaßt, egal, ob den Erfordernissen noch ein "allgemeiner gesellschaftlicher Handlungsrahmen", eine "Fetisch-Konstitution", vorgeschaltet ist oder nicht; denn die "Konstitution" ist eben nur der Rahmen, kann an und für sich keinen eigenen, aktiven Handlungsimpuls motivieren, der einzig von einer tieferen Ebene der "Bewußtheit" des jeweiligen Menschen geleistet wird und in der konkreten Bezogenheit über den Rahmen der "Konstitution" in jedem Fall weit hinausgehen muß. Eine plausiblere Variante wäre, daß die "Einsichten" einer "Bewußtheit" unter Berücksichtigung des Vorhandenen, der Erfordernisse auf der Basis schöpferischer geistiger Tätigkeit entstehen, die die Dinge, die da nun mal sind, verändernd, erweiternd, neu schaffend in eine sinnvolle Übereinstimmung mit dem Wollen, den menschlichen Erfordernissen und Bedürfnissen bringen, die sich weder nur auf eine "Fetisch-Konstitution" noch auf eine nützliche Futtersuche beschränken lassen, sondern auch existentielle und religiöse, d.h. ursprünglich-wesenhafte Bedürfnisse umfaßt - grundlegend meine ich damit die Liebe, Freiheit und Wahrheit. Damit sage ich abermals, daß es ein Bedürfnis nach existentieller Orientierung im Menschen gibt.

In gewisser Weise stimmt es ja, daß das "Subjekt der Moderne, das alle bisherigen Subjektformen in sich aufgehoben hat, ... sich ebensowenig wie alle früheren Gestalten des Subjekts seiner eigenen Form bewußt" ist; aber "es repräsentiert sozusagen die höchste Form der Form-Bewußtlosigkeit" nur als ein sekundäres, anerzogenes Rollen-Subjekt bzw. "Über-Ich" im weitesten Sinne, dessen "eigene Form" in Wirklichkeit eine fremde, anerzogene ist. Die Menschen sind in der Tat in ein vorgegebenes, ihnen z.T. nicht bewußtes Gerüst hineingewachsen, haben es sich in gewisser Weise selbst geschaffen. Aber diesem Gerüst können sie nur entkommen, wenn in ihnen subjektiv mehr ist als nur die "Subjektform". Tiefer als das entäußerte "Subjekt der Moderne" gelangt das authentische Subjekt immer wieder und häufiger in Widerspruch zu seiner Rollenverhaftung. Wäre diese gegenläufige subjektive Intuition nicht vorhanden, wäre der Mensch absolut seiner anerzogenen "Subjektform" ausgeliefert. Wie oben von mir schon dargelegt, verhindern vor allem auch sekundäre existentielle Ängste, die sich teilweise aus unerbittlichen Zwängen des jeweiligen Fetischsystems ergeben, daß sich der Mensch auf seine primären existentiellen Persönlichkeitskräfte, z.B. das echte Gewissen, beruft und sich von diesen in seinem Handeln leiten läßt. Jedoch gab es immer wieder Menschen, die ihr echtes Gewissen verteidigt und nicht preisgegeben haben. Dazu war es für diese Menschen auch nicht notwendig, den "allgemeinen gesellschaftlichen Handlungsrahmen, der historisch 'entstanden' ist", bewußt, d.h. klar zu erfassen und auszuleuchten. Dies habe ich persönlich auch in der DDR so erfahren können. Schon die von einem persönlichkeitsmißachtenden "Handlungsrahmen" hervorgerufenen bloßen Tendenzen bzw. Phänomene können für den Menschen eine unerträgliche Zumutung sein, die er bewußt leidend erlebt und die seine Entgegnung provoziert; und darauf aufbauend kann er auch den "Handlungsrahmen" immer besser verstehen lernen. Und ich finde, im Kapitel "Maschinenstürmer" des sehr bemerkenswerten Buch "Schwarzbuch Kapitalismus" beschreibt Kurz selber sehr überzeugend, wie sich die Menschen trotz der "ganz verschwommenen Kritik betriebswirtschaftlicher Schein-Rationalität und 'Marktgesetzlichkeit'..." (Ullstein Verlag, 3. Auflage 2003, S. 159) gegen den "Handlungsrahmen" zur Wehr setzten.

Was auffällt ist, daß Kurz die Bewußtheit einteilt in eine "Binnenbewußtheit innerhalb einer Fetisch-Konstitution" und eine "Bewußtheit anderer und höherer Ordnung... , denn Bewußtheit als Selbst-Bewußtheit ist etwas grundsätzlich anderes als bloße Kontrolle oder 'Herrschaft' gegenüber Naturdingen" (210 SH). Er läßt also für die "Bewußtheit" grundsätzlich zwei verschiedene Varianten zu, während dem Subjekt solch eine Einteilung nicht vergönnt ist. Das Subjekt ist laut Kurz der Feind des Menschen, dessen er sich entledigen muß. Dafür gilt es, eine subjektlose "Selbst-Bewußtheit" zu erwerben. Was das wiederum sein soll, wird zumindest aus dem hier besprochenen Text "Subjektlose Herrschaft" heraus nicht wirklich klar.

Die "allgemeine Bestimmung" des Subjekts: "Ein Subjekt ist ein bewußter Aktor, der sich seiner eigenen Form nicht bewußt ist", ist aus meiner Sicht in zweierlei Hinsicht problematisch. Zum einen wird der Subjektbegriff auf ein fetischverhaftetes Rollen-Subjekt reduziert, zum anderen kann nur in einer eingeschränkten Weise von einer "eigenen Form" gesprochen werden, sofern sich die "Form" auf ein sekundäres, anerzogenes Rollen-Subjekt bezieht, eben als "eigene Form" des Rollen-Subjekts. Dem authentischen Persönlichkeitssubjekt dagegen ist das fetischformverhaftete Rollen-Subjekt fremd und zuwider, welches als ein sekundär erworbener Teil des menschlichen Subjekts erkennbar ist und deshalb überwunden werden kann. Der "objektive Zwangscharakter", von dem Kurz spricht, ist einzig und allein eine Eigenschaft eines autistisch veranlagten Rollen-Subjekts, welches seine jeweiligen ›konkreten‹ Beziehungen sowohl zu den Dingen als auch insbesondere zu den anderen Subjekten zwanghaft in objektivierender Weise gestalten muß. Dennoch muß darüber hinaus betont werden, daß die objektivierende Erkenntnisweise dem ganzheitlichen Erkenntnisvermögen des Menschen als ein unabdingbarer Bestandteil angehört und der Verzicht auf diesen Bestandteil den Menschen lebensunfähig macht. Es kann gar nicht darum gehen, die objektivierende Erkenntnisweise absolut überwinden zu wollen, sondern es kann nur darum gehen, sie integrativ einzubinden und ihre dominierende Rolle mitsamt der verrationalisierten, dabei aber wesentlich irrational agierenden Moderne loszuwerden.

"Das Subjekt, weil es sich seiner Form und damit seiner selbst nicht bewußt ist, muß die Natur und die anderen Subjekte als bloße Außenwelt erleben. Die Begrenztheit des Wahrnehmungs- und Handlungsbewußtseins erlaubt es nämlich nicht, eine Meta-Ebene zu erklimmen und sich selbst (das Subjekt) in seinem Bezug zur Außenwelt wahrzunehmen und also den Gesamtkomplex zu begreifen, in den das Subjekt und seine Wahrnehmungs- bzw. Handlungsgegenstände eingeschlossen sind. Die Form-Unbewußtheit des Subjekts, die eine bloße Dichotomie von Subjekt und Außenwelt konstituiert, setzt damit die Gegenstände von Wahrnehmung und Handlung (Natur und andere Subjekte) zu Objekten herab. Der Subjekt-Objekt-Dualismus ist Folge der Tatsache, daß die Meta-Ebene, von der aus der Aktor und seine Gegenstände als ein gemeinsames Ganzes erscheinen, sozusagen 'nicht besetzt' ist; diese Meta-Ebene nimmt eben die subjektlose Form des Subjekts ein, wodurch sich der scheinbar unausweichliche und unüberbrückbare Dualismus herstellt. Es wäre also von daher eine zweite, ergänzende Bestimmung des Subjekts möglich: Ein Subjekt ist ein Aktor, der seine Gegenstände zu äußeren Objekten herabsetzen muß." (198/199 SH)

Gerade weil das Subjekt wesentlich, auf der "Meta-Ebene", Persönlichkeit ist, kann es sich sukzessive der Fetischform bewußt werden. Kurz legt natürlich auf das Subjekt, welches er auf ein Form-Subjekt reduziert, keinen Wert mehr, hofft auf die Gewinnung einer "gesellschaftlichen Selbst-Bewußtheit". Aber diese "Bewußtheit" macht nur einen Sinn, wenn sie in sich Eigenschaften, Grundlagen beinhaltet, die einen authentischen subjektiven Charakter tragen. Wenn angeblich die "Meta-Ebene" ausschließlich von einer "subjektlosen Form des Subjekts" eingenommen wird, dann behauptet Kurz gewissermaßen, daß diese "subjektlose Form" für die äußerlich dynamisierende Entwicklung des Kapitalismus maßgeblich in Frage kommt und in dieser Hinsicht die schöpferischen Impulse liefert. Demnach gibt es keinen anderen Ausweg aus der "Konstitution" als ihr innerlich und äußerlich vollständiger Zusammenbruch aus ihren immanenten Widersprüchen heraus, ohne Hilfe einer aktiv ins ›Spiel‹ gebrachten tieferen, subjektiv getragenen Intention, die es nach dieser Theorie der subjektlosen Herrschaft nicht geben kann. Deshalb kann es auch keine echte, fetischsystemüberwindende Vision geben, weil sich bisher noch alle Visionen mehr oder weniger im Bannkreis der "Fetisch-Konstitution" befinden müssen. Deshalb beharrt Robert Kurz auch auf einer rein "negatorischen" Kritik ("Negative Ontologie" in R. Kurz, Blutige Vernunft, Horlemann Verlag, 2004.) dieser "Konstitution", damit von ihr und vom entsprechenden Fetischdenken nichts in einen neuen Gesellschaftszusammenhang hinübergerettet werden kann. Was sich jedoch nach einer absoluten Negation der "Konstitution", des Subjekts ereignen wird, wird von Kurz dann nur noch sehr schemenhaft besprochen, bezieht sich konkreter meist nur auf praktisch-organisatorische Fragen der Lebensgestaltung, obwohl er dabei, ohne es einzugestehen, nicht ohne inneres existentiell-ethisches ›Richtmaß‹ auskommt. Jedoch weist letzteres darauf hin, daß seine Subjekt-Theorie mit der von ihm geforderten Praxis des

"... 'kommunikativen Handelns' (Habermas) der Menschen, die ihre eigene Gesellschaftlichkeit und ihre gesellschaftlichen Handlungsketten bewußt reflektieren und dementsprechend organisieren" (217 SH)

nicht übereinstimmt. Denn "kommunikatives Handeln" ist an ein Subjekt des Handelns gebunden. Und dieses Subjekt existiert authentisch als Persönlichkeit und ist nur oberflächlich Form-Subjekt, auch wenn letzteres derzeit die ›Szenerie‹ massiv dominiert unter Verwendung und Einbindung entfremdeter existentiell-schöpferischer und destruktiver Kräfte des Menschen. Deshalb sage ich, Kurz' "ergänzende Bestimmung" umwandelnd: Das Form-Subjekt ist ein sekundär erworbener Aktor, der seine Gegenstände zu Objekten herabsetzt. Nur von diesem Form-Subjekt aus ist der "Subjekt-Objekt-Dualismus" "scheinbar unausweichlich und unüberbrückbar". Aber ich sage nicht, daß der Subjekt-Objekt-Dualismus vom Menschen absolut zu überwinden sei, solange er in dieser Welt lebt und wirkt. Der relative Subjekt-Objekt-Dualismus ist als eine ›niedere‹, unter- bzw. zugeordnete, abstrakt-geistige Beziehungsrealität durch die konkrete Schaffung einer geistigen Gemeinschaft sowohl unter den Menschen als auch mit den Tieren, Pflanzen und Dingen der Welt fortwährend zu überwinden und bildet dennoch, antinomisch, für die Gemeinschaft eine unverzichtbare Voraussetzung, die den Bedingungen einer relativen Welt der Objekte Rechnung trägt. Die ganzheitliche Erkenntnis des Menschen ist sowohl primär eine existentiell-intuitiv schöpferische als auch eine damit unabdingbar verbundene sekundär rational objektivierende. Denn der Mensch ist sowohl ein geistig-seelisches als auch ein physisch-materielles Wesen, er vereint in sich beide Seiten ganzheitlich. D.h., daß es für den Menschen auch darauf ankommt, daß er mit einer Welt der Objekte, ausgerichtet auf seine geistige Bestimmung, schöpferisch umgehen muß. Zur Aufrechterhaltung des menschlichen Körpers, des kulturellen und ökonomischen Gesellschaftskörpers etc. kann auf eine objektivierende und objektivierte Praxis unter anderem zur Bereitstellung materieller Lebensgrundlagen nicht verzichtet werden.

"Aber wenn die Selbsterkenntnis des Beobachters, der sich selbst in die Beobachtung einbezieht, auch die Beobachtung der Selbstwidersprüchlichkeit des Systems und damit die Selbstwidersprüchlichkeit des Beobachters selbst (seiner eigenen Form) einschließt, wird auch ein anderer Begriff von praktischer Aufhebung gewonnen: nämlich die Identität der praktischen Systemaufhebung mit der praktischen Selbstaufhebung des Beobachters, der eben dadurch erst aufhört, bloßer Beobachter zu sein, und dadurch auch erst den 'Standpunkt ab extra' wirklich aufgibt. Solange er bloßer Beobachter bleibt, bleibt auch die Beschreibung letztlich eine solche 'von außen'. Das bei Luhmann ebenso wie bei Hegel feststellbare kontemplative Moment zeigt in Wirklichkeit nicht ein 'Zuviel', sondern eher einen Mangel an (kritisch-aufhebender) Immanenz, d.h. es ist ein Rest oder eine Schwundstufe des 'Standpunktes ab extra', worin die praktische Selbstwidersprüchlichkeit von System und Beobachter nicht mitreflektiert wird. Gerade die konsequent durchgehaltene Selbstreflexivität führt so im Gegensatz zu Luhmann zur radikalen Systemkritik, allerdings unter Selbsteinschluß des Beobachters/Kritikers, der von keinem ontologischen 'Standpunkt ab extra' mehr ausgeht, weder von einer Ontologie der 'Arbeit' noch von einer Ontologie des 'Subjekts', allerdings erst recht nicht von einer Ontologie 'subjektloser Systeme'. Vielmehr wird die Subjekt-Objekt-Dichotomie dann selber systemisch historisiert statt bloß verworfen." (202/203 SH)

Zunächst wiederhole ich noch einmal, was ich weiter oben schon dargelegt habe: Die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung verlangt im Verhältnis zum Persönlichkeitssubjekt keinen Meta-Standpunkt. Authentische Selbstbeobachtung erhebt sich unmittelbar aus dem Prozeß der ganzheitlichen Persönlichkeitsrealisierung, ist ein Aspekt von ihr, befindet sich mit ihr auf ein und derselben Ebene. Authentische Selbstbeobachtung kann nur unmittelbar im Akt des Transzendierens, der Bezogenheit der Persönlichkeit existentiell vollzogen werden und würde augenblicklich erlöschen, sobald sich die Persönlichkeit völlig aus aller Bezogenheit herausnehmen und in sich selbst als egozentrisches Nichts vergraben würde. Authentische Selbstbeobachtung ist somit der ursprünglichste, primärste Akt der transzendierenden Selbsterkenntnis des Persönlichkeitssubjekts.

Einen "bloßen Beobachter" "von außen" hat es im absoluten Sinne nie gegeben. Immer hat der Mensch in seine Beobachtung zumindest fremdbestimmte subjektive Urteile, Vorurteile, Bewertungen einfließen lassen. Das Beobachtete wird im Akt des Beobachtens einer subjektiv-schöpferischen Wertung unterzogen oder zumindest einer starren fetischorientierten, die ihrerseits jedoch ein Mindestmaß schöpferischer Wertungsfähigkeit bedarf. D.h., daß das Beobachtete im Akt des wie auch immer gearteten Beobachtens konkret-subjektiv neu entsteht, neu geschaffen werden muß, erweitert wird auf der Grundlage primärer schöpferischer Erkenntnismittel und Intuitionen sowie sekundärer Kategorien (Kant). Wir beobachten also niemals völlig "von außen", neutral, unabhängig, absolut objektiv (allgemeingültig). Dies leugnen zu wollen wäre müßig, zumal jeder Mensch im alltäglichen Leben ständig Wertungen, die ein Mindestmaß schöpferisch-existentieller Zugabe enthalten, bewußt wahrnehmend vollzieht und vollziehen muß, will er überhaupt irgendeine Beziehung aufbauen, und dies also eine an sich selbst zu beobachtende existentielle Realität darstellt. Dennoch ist auch die Beobachtung "von außen" ein realer Erkenntnisvollzug, aber er ist relativ-sekundär, bedarf eben ursprünglicher Erkenntnismittel, die er entfremdend gebraucht. Die objektivierende Erkenntnisweise ist solch ein Erkenntnisvollzug. Dominierend ausgeübt durch ein Form-Subjekt wird die objektivierende Erkenntnisweise als Herrschaftsmittel mißbraucht.

Es geht in der Tat darum, den überheblichen, machtbeflissenen, fetischorientierten "... 'Standpunkt ab extra'..." (Niklas Luhmann) aufzuheben. Aber wie? Die Antwort darauf bleibt uns Robert Kurz schuldig. Er kommt über eine "negatorische" "praktische Selbstaufhebung des Beobachters" nicht hinaus. Was kommt, soll erst noch geschaffen werden - das sehe ich auch so, aber es geht nicht ohne die authentische Persönlichkeitswahrnehmung des Menschen, ohne die dieser ein Blatt im Wind wäre, abhängig von den vagen "Inhalten", die laut Kurz' "radikaler Kritik" jedoch auch keinen "apriorischen Maßstab" darstellen dürfen. Wohin soll das führen - in ein allgemeines Chaos ›menschlichen Zusammenlebens‹, ›menschlicher Erkenntnis‹?

"Die dritte Bestimmung des Subjekts, die erst in der okzidentalen Warengesellschaft voll hervortritt, müßte von daher lauten: Ein Subjekt ist ein Aktor, der strukturell männlich bestimmt ist.

Von den bisher gewonnenen Bestimmungen aus ist dann auch der Begriff der Herrschaft reformulierbar. Die Subjektlosigkeit der Herrschaft ist die Subjektlosigkeit der Form des Subjekts, die einen objektivierten, zwanghaften Wahrnehmungs- und Handlungsbezug konstituiert. In diesem Bezug werden Natur und andere Subjekte (in spezifischer Weise die Frau als Quasi-Natur) zu Objekten herabgesetzt, aber eben nicht aus der Willens-Subjektivität des erscheinenden Ich-Bewußtseins heraus, sondern aus der Bewußtlosigkeit seiner eigenen Form. Dieser Zwangscharakter, der sich in Herrschaft niederschlägt, d.h. in Repressionshandlungen, erfaßt aber nicht nur den Außenbezug des Subjekts, sondern notwendig auch seinen Selbstbezug. Denn da die Fremdheit des Wahrnehmungs- und Handlungsbezugs die Fremdheit des Eigenen ist, d.h. die Fremdheit (Bewußtlosigkeit) der eigenen Form, kann das Subjekt sich auch selber nicht in seiner Ganzheit wahrnehmen, sondern bleibt auf das fetisch-konstituierte erscheinende Ich-Bewußtsein beschränkt. Ein erheblicher Teil seiner selbst muß ihm also ebenfalls zur 'Außenwelt' werden; der Selbstbezug wird zu einer Erscheinungsform des Außenbezugs. Genauer gesagt: das von der bewußtlos konstituierten Bewußtseinsform ausgehende Wahrnehmungsdiktat erfaßt auch das 'Selbst' des Subjekts insoweit, als es sich zu sich selbst als Möglichkeit der Formreproduktion (als warenförmiger Gegenstand) verhalten muß und die eigenen Befindlichkeiten und Fähigkeiten etc. unter diesem Aspekt objektiviert. Das Subjekt muß sich also auch selber objektivieren und 'selbst beherrschen' im Namen seiner bewußtlosen eigenen Form, bis hin zur Zurichtung des eigenen Körpers, der der reinsten und entwickeltsten Fetisch-Form des warenproduzierenden Systems buchstäblich zur äußerlichen Körper-Maschine herabgesetzt wird. Wir können also eine vierte Bestimmung des Subjekts geben: Ein Subjekt ist ein Aktor, der sich selbst zur Außenwelt wird und sich damit selbst objektiviert." (204/205 SH)

Wenn Kurz die "dritte Bestimmung" auf ein Form-Subjekt einschränken würde, das "erst in der okzidentalen Warengesellschaft voll hervortritt," so könnte sie "von daher lauten": Ein Form-Subjekt "ist ein Aktor, der strukturell männlich bestimmt ist." Das authentische Subjekt dagegen ist in seiner Tiefe androgyn veranlagt, kann vor allem auch deshalb ganzheitlich-einfühlsam geschlechterübergreifend transzendieren. Von der eingeschränkten "dritten Bestimmung" aus wäre "dann auch der Begriff der Herrschaft" formulierbar. Man kann zustimmen, daß die Form des Form-Subjekts subjektlos ist und Herrschaft ermöglicht. Aber die Form an sich ist nicht in der Lage, Herrschaft aktiv zu motivieren, sondern tritt sekundär nur über primäre schöpferische Kräfte und Willenskräfte in Erscheinung, die von der starren, wesentlich unlebendigen Form in bestimmte Bahnen gelenkt werden, "die einen objektivierten, zwanghaften Wahrnehmungs- und Handlungsbezug konstituierten", der jedoch immer wieder auf einen Rest inneren Widerwillens der Persönlichkeit gegen Selbstentfremdung stoßen kann bzw. stößt, ein Widerwillen, der durch die schöpferisch transzendierende Selbsterkenntnis im Akt des Handelns hervorgerufen wird, auch wenn die Selbsterkenntnis dabei nur eine äußerst schwache ist. "Bewußtseinsform" und schöpferische Kräfte des Menschen bilden für den "zwanghaften Wahrnehmungs- und Handlungsbezug" eine unheilvolle Liaison. Kurz dagegen will den Objektivierungszwang auf eine Ursache zurückführen, nicht auf die "Willens-Subjektivität des erscheinenden Ich-Bewußtseins", sondern auf die "Bewußtlosigkeit seiner eigenen Form". Er distanziert sich somit in "negatorisch"-monistischer Weise vom Subjekt, welches für ihn nur in Verbindung mit der Form existieren kann, und befürwortet seinerseits eine subjektlose "gesellschaftliche Selbst-Bewußtheit" (210 SH), die aus pantheistischer Sicht alles oder aus buddhistischer nichts sein kann. Das "...'Selbst' des Subjekts", ein ›Selbst‹, das vom außenbezüglichen "Wahrnehmungsdiktat" der "bewußtlos konstituierten Bewußtseinsform" erfaßt wird, wird durch ein ›Selbst‹ ersetzt, das nur noch in einer ebenfalls außenbezüglichen "gesellschaftlichen Selbst-Bewußtheit" erscheinen kann, sofern ein personal-subjektives apriorisches Selbst nicht in Frage kommt. D.h., auch die "gesellschaftliche Selbst-Bewußtheit" hat somit ein "Wahrnehmungsdiktat", und zwar den gesellschaftlichen "Außenbezug".

Wenn ich nun die "vierte Bestimmung" auf ein Form-Subjekt einschränke, so lautet sie: Ein Form-Subjekt "ist ein Aktor, der sich selbst zur Außenwelt wird und sich damit selbst objektiviert". Die "Fremdheit (Bewußtlosigkeit) der eigenen Form" gegenüber kann jedoch immer wieder durch den Widerwillen der originären Persönlichkeitswahrnehmung durchbrochen werden, die gegenläufig das Form-Subjekt ganzheitlich-bewußt erfaßt und zu überwinden trachtet. Nur reicht diese innere Motivation allein nicht aus, sondern muß durch eine radikale Kritik der komplexen gesellschaftlichen Fetischverhältnisse gestärkt werden, eine Kritik, die geistig immer wieder zu erarbeiten ist, um letztlich auch gemeinschaftlich handeln zu können.

"... versuchen die jüngeren und elaborierteren Ansätze der Tatsache Rechnung zu tragen, daß die 'Beherrschten' auch selber zur Herrschaft beitragen, sogar sich selber gegenüber Herrschaftsfunktionen ausüben.

Der primitivste Erklärungsversuch besteht in den diversen Varianten der 'Manipulationstheorie', der zufolge die 'Herrschenden' mittels äußerer Bewußtseinskontrolle durch Religion (vgl. dazu die alt-aufklärerische Vorstellung vom 'Priesterbetrug') und heute durch Medien, Werbung, 'Lügenpropaganda' usw. die 'Beherrschten' in ihrem Bewußtsein manipulieren und sie dazu bringen würden, gegen ihre 'eigentlichen' Interessen zu handeln." (205 SH)

Wenn man Kurz' Kritik nicht auf das Subjekt in seinem ganzheitlichen Umfang, sondern auf das spezielle relative Form-Subjekt anwendet, gewinnen seine Aussagen an Überzeugungskraft. Von daher ist zu bestätigen, "daß die 'Beherrschten' auch selber zur Herrschaft beitragen, sogar sich selber gegenüber Herrschaftsfunktionen ausüben". Aber es hat sich dennoch eine subtile "Manipulations"-maschinerie und "Bewußtseinskontrolle" herausgebildet, die eben nicht einfach nur realitätsferne primitive Ideologien von ›oben‹ nach ›unten‹ in die Bevölkerung streuen, wie dies z.B. in den ehemaligen Gebieten des staatskapitalistischen Sozialismus oft geschah. In der kapitalistischen Moderne beherrschen sich die Menschen auch selbst, wie Kurz richtig feststellt, jedoch indem sie sich aktiv manipulieren (über die Medien etc.) und ihr veräußertes Leben verklären, diesem einen scheinqualitativen Anstrich verleihen, der keine reale Tiefe hat. Der ›Westmensch‹ will eingelullt werden, damit die Ängste vor den kommenden Konsequenzen des ›Kapital-Verbrechens‹ das ›schöne Leben‹ nicht belasten. Er will sich nicht denkerisch, kritisch mit seiner Situation auseinandersetzen. Eigentlich geht ihm die ›Muffe‹ angesichts der drohenden ökologischen Katastrophe. Da kommt ihm die mediale Verdrängungskunst sehr entgegen. Die allzeit präsente Werbung ist bunt und suggeriert ihm eine heile Welt, so wie er es seit Jahren, ja ein Leben lang gewohnt war. Damit verbindet der moderne Mensch auch Sicherheit - ein existentielles Grundbedürfnis, das unaufhörlich in perverse Bahnen gelenkt wird und so seinen Dienst im Sinne der ›erforderlichen‹ Systemfunktionalität erfüllt. Warum sollte man die selbstgemachte fetischorientierte bzw. systemfunktionale Berichterstattung, von deren Richtigkeit und Tiefgründigkeit oft auch die ›Macher‹ selbst völlig überzeugt sind, nicht als "Lügenpropaganda" bezeichnen? Kann man nur das als "Lügenpropaganda" bezeichnen, was bewußt berechnend, bewußt heuchlerisch und zum Teil zynisch konzipiert wird wider besseren Wissens? Aber auch diese Art "Lügenpropaganda" gibt es heutzutage. Und es gibt ebenfalls Menschen, die lieber entsprechend "ihrer eigentlichen Interessen" handeln würden, aber durch einschüchternde "Lügenpropaganda" in fetischorientierender Weise kontrolliert werden. Dies ist eben die kapitalorientierte Kontrolle über die vom Menschen bewußt erlebten Ängste - eben "Bewußtseinskontrolle" -, indem man gezielt die Ängste schürt und diese für eigene Zwecke mißbraucht. Auch wenn die sogenannten "Herrschenden" teilweise/größtenteils von der moralischen Richtigkeit ihres machtausübenden Fetisch-Handelns überzeugt sind, so unterziehen sie dennoch die in der Machthierarchie weiter unten stehenden sogenannten "Beherrschten" einer entsprechenden Kontrolle, um letztlich die Ordnung zu schützen, die entweder das eigene bequeme ›Leben‹ im Gegensatz zum Leben der relativ "Beherrschten" oder aber das gewohnte und so gewollte asketische ›Leben‹, das fetischverhaftete Erfolgsstreben absichern soll usw. usf. Wenn sich sowohl die "Herrschenden" als auch die "Beherrschten" im starken Maße ihrer Fremdbestimmung nicht bewußt sind, so vor allem deshalb, weil sie ihrer geschwächten Persönlichkeitsintuition keinen Raum lassen, damit diese entscheidend wirksam werden, damit sie dazu beitragen kann, ein entsprechendes Bewußtsein zu entwickeln. Aber dennoch, in Momenten nehmen heutzutage schon mehr Menschen ihr Leben als ein partiell fremdgesteuertes bewußt wahr und sind zumindest davon genervt und äußern dies auch.

"Die 'Herrschaft des Menschen über den Menschen' ist also nicht im kruden subjektiv-äußerlichen Sinne zu verstehen, sondern als umfassende Konstitution einer zwanghaften Form des menschlichen Bewußtseins selbst. Innere und äußere Repression liegen auf derselben Ebene von bewußtloser Codierung. Die Herrschaft von Traditionen, Militär- und Polizeigewalt, bürokratische Repression, 'stummer Zwang der Verhältnisse', Verdinglichung und Selbstverdinglichung, Selbstvergewaltigung und Selbstdisziplinierung, geschlechtliche und rassistische Unterdrückung und Selbstunterdrückung usw. sind nur Erscheinungsformen ein- und derselben fetischistischen Bewußtseins-Konstitution, die ein Netz von 'Macht' und damit von Herrschaft über die Gesellschaft legt. Die 'Macht' ist nichts anderes als das allgemeine, alles durchdringende Fluidum der Fetisch-Konstitution, die innerlich wie äußerlich immer schon vorgefundene Erscheinungsform der eigenen Form-Unbewußtheit." (206 SH)

"Die 'Herrschaft des Menschen über den Menschen'..." kann nicht einzig und allein auf eine "Ebene von bewußtloser Codierung" zurückgeführt werden, die an sich keine Herrschaft ausüben kann, sondern nur sekundär ermöglicht. D.h., Herrschaft hat tiefere, komplexere Ursachen. Sie beruht in Wechselwirkung mit den fortschreitenden gesellschaftlichen Fetischverhältnissen auf einer spezifischen Schwächung des Persönlichkeitssubjekts und der partiellen Überantwortung und pervertierenden Anpassung ihrer schöpferisch-geistigen Kräfte an ein fetischorientiertes Form-Subjekt. Das gilt für das Leben eines jeden einzelnen Menschen, der sich jeweils unterschiedlich der Herrschaft beugt oder ihr widersteht. Das Form-Subjekt kann wesentlich nur durch die existentiellen Hintergrundkräfte des Menschen aktiv werden. Und nicht alle Hintergrundkräfte des Menschen tragen einen schöpferisch-ethischen Charakter. Gerade des Menschen destruktive Momente treten in einer geschwächten Persönlichkeit verstärkt hervor, Momente, die überhaupt in des Menschen Freiheit zum Guten und Bösen angelegt sind, eine Freiheit, die dem Menschen ursächlich eigen ist, über deren Ausrichtung und Wirksamkeit aber nicht von einer höheren Macht im vorhinein entschieden wurde. Es obliegt primär dem jeweiligen Menschen, in seinem Leben entweder vorwiegend mutig, schöpferisch-ethisch, authentisch-persönlichkeitsbezogen oder destruktiv zersetzend und pervertierend, geistig rückwärtsgewandt und starr, hinnehmend-angepaßt zu handeln. Letztere Variante geht meist einher mit den allzumenschlichen destruktiven Eigenschaften wie Neid, Eifersucht, (Fremden-) Haß, Rache, Mißgunst, Mitleidlosigkeit und Kälte, Härte und Gewalt, die auch im "kruden subjektiv-äußerlichen Sinne" zum tragen kamen und kommen. Manchmal erfordern die Umstände natürlich eine relative äußere Anpassung, eine Hinnahme der Zwänge, die einem konsequenten Widerstehen vorzuziehen sind, weil letzteres sinnlos wird, wenn dadurch noch mehr Leiden erzeugt wird. Ein anderes Mal wiederum darf man dem Anpassungszwang nicht nachgeben, weil dies mit den wahren menschlichen Werten in keiner Weise vereinbar ist. Aber entscheidend ist letztlich, daß jeder Mensch aus der Situation heraus schöpferisch sein Handeln bestimmen muß, sofern er sich zu seinem echten Gewissen bekennt, welches in seiner ursprünglichen Kraft unbestechlich ist. Wie der einzelne Mensch handelt, das ist primär von der Stärke und Höhe seines Persönlichkeitsbewußtseins, seines umfassenden integralen Geistes abhängig, der sich einer nicht immer leicht durchschaubaren Welt zu stellen hat. Und es geht hierbei nicht um einen zwanghaft zu erringenden Erfolg. Der Erfolgszwang gehört einer fetischorientierten Welt, einem Götzenbewußtsein an.

Es wird für das Leben der Menschen jedoch niemals eine perfekte Lösung geben, da das Leben ansonsten zum absoluten, tödlichen Stillstand käme. Es gilt die Welt von unnötigen, geist- und lebensverhindernden Leiden zu befreien, damit wir die Wahrheit des Lebens realisieren können in der schöpferisch zu erringenden Einheit von Geist und Wirklichkeit. (Siehe auch das Buch: N. Berdjajew, Geist und Wirklichkeit.) Doch auch ein von unnötigen Leiden befreites Leben wird von Tragik begleitet sein. Dazu noch einmal folgendes Zitat:

››So sieht sich der Mensch manchmal verpflichtet und innerlich gezwungen, einer Liebe zu entsagen, die er als höchsten Wert und höchstes Gut auffaßt, im Namen eines Wertes, der zu einer anderen geistigen Lebenssphäre gehört, im Namen etwa der zutiefst erlebten geistigen Freiheit oder der familiären Beziehungen, oder endlich aus Mitleid zu anderen Menschen, denen seine anders gerichtete Liebe Leiden bringt. Oder aber umgekehrt: der Mensch kann den zweifellosen Wert seiner geistigen Freiheit und seiner Berufung in dieser Welt, der Familie und Mitleides zu seinen Mitmenschen zugunsten des unendlichen Wertes der Liebe zum Opfer bringen. Entscheidend ist dabei, daß kein Gesetz und keine Norm den auf diese Weise entstandenen Wertkonflikt des sittlichen Willens zu lösen verhelfen können. Der tragische Wertkonflikt appelliert an die menschliche Freiheit; seine Lösung vollzieht sich durch die schöpferische sittliche Tat.‹‹ (Berdjajew, N.: Von der Bestimmung des Menschen, Gotthelf-Verlag, 1935, Bern-Leipzig, S. 212)

Der Tod ist eine wesentliche existentielle Erfahrung des Lebens, liegt jeder Tragik zugrunde und fordert die Liebe und Freiheit heraus. Jedes Leiden mahnt uns an den Tod, den es im Leben fortlaufend zu überwinden gilt z.B. in Gestalt unmenschlicher Lebensverhältnisse, als abgetötete mechanische Geistesverfassung, Apathie, menschliche Destruktivität, die mit einer annähernd fetischfreien Gesellschaftsstruktur allein nicht zu bewältigen ist, da die Möglichkeit zur Destruktivität primär und potentiell in der Freiheit des geistigen Menschen verwurzelt ist und dem Menschen im Leben eine persönlich schöpferische Antwort abverlangt. Auch die Depressionen, die mit Zweifeln am Sinn des Lebens, an der eigenen Existenz einhergehen, kehren gelegentlich wieder, bedürfen ebenfalls einer schöpferischen Antwort, die vor allem auch über eine innere Kontemplation gewonnen werden kann, die als ein kräftesammelndes Hauptmoment zum Leben dazugehört, die das Leben der Menschen fortlaufend stützt und von ihnen gepflegt werden muß. Auch im oben beschriebenen Wertekonflikt (Zitat: Berdjajew) tritt der Tod in der Form des zu erbringenden Opfers an uns heran, offenbart uns die Grenzen der Vereinbarkeit der verschiedenen ››geistigen Lebenssphären‹‹. Die Liebe selbst ist in der Tiefe mit dem Tod verbunden. Mit der konkreten Liebe geben wir die wahrhaftigste Antwort auf den Tod: dessen fortlaufende schöpferische Überwindung im Leben. Gerade deshalb ist Liebe immer auch ein schöpferisches (freiheitliches) Leiden für die Liebe - dies ist eine ursprüngliche Erfahrung des existentiellen Lebens. In der konkret erlebten Liebe finden wir im Durchgang durch eine Welt der Grenzen, der Enge, der Notwendigkeiten, der Entartungen wie des Hasses, der eine zur Destruktivität neigende, äußerst zwiespältige Mischung aus Liebe und Tod darstellt, der tendenziellen Erstarrung und somit des tendenziellen Todes zu einer Welt der Freiheit, der Schöpferkraft, der Wahrheit, der Fülle und Freude des Lebens. Doch die duale Komponente des Lebens, wie das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit, ist nicht absolut überwindbar; deshalb bleibt das Leiden ein wesentliches Moment der Liebe, die gerade auch dadurch fortlaufend an unermeßlicher Tiefe bzw. Höhe gewinnt, was auch existentiell so erlebt wird. Jede Liebe zu einem anderen Menschen ist ein Leiden um ihn angesichts der Widrigkeiten, die das Leben zuweilen unerträglich erschweren. Man möchte den Geliebten vor den Widrigkeiten des Lebens schützen, ihn davor bewahren. In der Liebe gelangen die einander Liebenden in das Reich der Freiheit, das in Augenblicken frei vom Leiden, das eine Vereinigung der Liebenden in Freude und Seligkeit sein kann, und dennoch leidet der jeweilig Liebende um den Geliebten angesichts dessen unlösbarer Verstrickung in eine Welt der Notwendigkeiten und des Todes. So wünscht sich der Liebende die Ewigkeit für den Geliebten, die es auf Erden nicht geben kann. Der Tod ist des Menschen unvermeidliches Schicksal. Der Tod des geliebten Menschen kann vom Liebenden in der Tiefe seines Herzens dennoch nicht einfach so hingenommen werden; der schmerzliche Verlust bleibt bestehen, auch wenn dieser sich im weiteren Verlauf des Lebens abschwächen sollte. Auch der Verlust eines Tieres kann uns in dieser Hinsicht schwer treffen. Dies weist darauf hin, daß die persönliche Liebesbeziehung zu einem anderen, liebesbedürftigen Wesen von allerhöchstem existentiellen Wert für uns Menschen ist. Es geht letztlich um den schöpferisch liebenden Menschen, der in einem jeden Menschen zu wecken ist. Und dies wiederum kann wesentlich nur mit schöpferisch getragener Liebe und nicht mit Macht und kalkulierter Gewalt geschehen.

Noch einmal: "Die Herrschaft von Traditionen, Militär- und Polizeigewalt, bürokratische Repression, 'stummer Zwang der Verhältnisse', Verdinglichung und Selbstverdinglichung, Selbstvergewaltigung und Selbstdisziplinierung, geschlechtliche und rassistische Unterdrückung und Selbstunterdrückung usw. sind" eben nicht "nur Erscheinungsformen ein- und derselben fetischistischen Bewußtseins-Konstitution, die ein Netz von 'Macht' und damit von Herrschaft über die Gesellschaft legt." Die Menschen müssen aktiv, unter Einbindung schöpferischer Potenzen, die Herrschaft, die Macht willentlich zum ›Leben‹ erwecken. Der pervertierte Machtwille setzt seinerseits eine fetischorientierte Disziplinierung des Menschen und die Einengung, Verdrängung, Schwächung seiner Persönlichkeit voraus. Die "Macht" wird somit aus einer unheilvollen Liaison des sekundären, "allgemeinen, alles durchdringenden Fluidums der Fetisch-Konstitution" und seines Form-Subjekts mit den ursprünglicheren schöpferischen und den ungezügelten, unbewältigten destruktiven Kräften des Menschen gebildet, wobei sich eigens die destruktiven Kräfte auf diese Weise bis zum unmenschlichsten Exzeß austoben können.

"Der Herrschaftsbegriff ist insofern nicht einfach zu verwerfen, um an seine Stelle den Begriff der Fetisch-Konstitution zu setzen, die das Subjekt und seine Äußerungen zur bloßen Marionette herabsetzen würde. Vielmehr müssen der Begriff der Herrschaft und der Begriff ihres Mediums 'Macht' als die Begriffe der allgemeinen Erscheinungsform von Fetisch-Konstitutionen abgeleitet werden, die ihrerseits wieder in verschiedenen Formen und auf verschiedenen Ebenen praktisch und sinnlich als Spektrum der Repression bzw. Selbstrepression erscheint. Die dem Bewußtsein unbewußte Form seiner selbst erscheint als Herrschaft auf allen Ebenen. In Gestalt der Herrschaft geht das Subjekt als fetischkonstituiertes Wesen real mit sich selbst und mit anderen um. Die objektivierten Kategorien der Konstitution bilden dabei das (jeweilige) Muster oder die Matrix der Herrschaft." (206/207 SH)

Solange Kurz ein "apriorisches Subjekt", d.h. ein schöpferisches Subjekt nicht anerkennt, kann der Mensch als "fetischkonstituiertes Wesen", als "Subjekt" nur "bloße Marionette" sein. Daran ändert sich auch nichts, wenn "der Begriff der Herrschaft und der Begriff ihres Mediums 'Macht' als die Begriffe der allgemeinen Erscheinungsform von Fetisch-Konstitutionen abgeleitet werden". Auch die "Erscheinungsformen" können immer nur auf die "Fetisch-Konstitution" zurückgreifen, denn laut Kurz ist die

"...'Macht'... nichts anderes als das allgemeine, alles durchdringende Fluidum der Fetisch-Konstitution".(206 SH)

Kurz verwirft mit seiner Annahme, daß alles auf ein und dieselbe "Fetisch-Konstitution" in Gesellschaft und Bewußtsein zurückzuführen ist, automatisch den "Herrschaftsbegriff", der auch den aktiven, mitverantwortlichen Beitrag des Menschen als ein mit schöpferischen Kräften ausgestattetes Subjekt beinhalten muß, soll dieser "Herrschaftsbegriff" nicht sinnlos werden. In bloßer "Gestalt der Herrschaft" kann kein "Subjekt als fetischkonstituiertes Wesen real mit sich selbst und mit anderen" umgehen. Denn "Herrschaft" als "allgemeine Erscheinungsform" der "Fetisch-Konstitution" muß mit schöpferischen Kräften quasi gefüttert werden, hat ein tieferes Subjekt zur Grundlage, um erscheinen zu können.

"Wenn das warenproduzierende System heute in seine absolute Krisenreife eintritt, spitzt sich der Selbstwiderspruch der Fetisch-Konstitution notwendig bis zur Unerträglichkeit zu. Nicht die wohlgefällige Auflösung in Meta-Erkenntnis ist die Folge, sondern das Zurückschrecken vor dieser Meta-Erkenntnis, die Furcht vor der Subjektauflösung und das bis zum brüllenden Wahnsinn gehende Sichfestkrallen an den Codierungen der bewußtlosen Bewußtseinsform. Unter diesen Bedingungen verdichtet sich die 'Macht' noch einmal extrem. Die äußere Repression der Staatsgewalt und der bürokratischen menschenverachtenden Krisenverwaltung verdichtet sich ebenso wie die wechselseitige Ausgrenzungskonkurrenz und die offene Gewalt auf den Ebenen der Kriminalität, des politischen bzw. pseudopolitischen und rassistischen oder ethnizistischen Hasses und der Geschlechts- und Erziehungsverhältnisse; der 'stumme Zwang' der fetischistischen Erfolgskriterien verdichtet sich wie die Selbstrepression der ihm blindlings folgenden Individuen." (207 SH)

Jawohl, "wenn das warenproduzierende System heute in seine absolute Krisenreife eintritt", ist "nicht die wohlgefällige Auflösung in Meta-Erkenntnis... die [automatische - D. H.] Folge, sondern das Zurückschrecken vor dieser Meta-Erkenntnis". Dies stimmt mit der zu beobachtenden gesellschaftlichen Realität überein. Wie oben schon angesprochen, spielen hierbei existentielle Ängste wie Verlustängste etc. eine große Rolle. Ich kann auch zustimmen, daß es sich dabei um "die Furcht vor der Subjektauflösung und das bis zum brüllenden Wahnsinn gehende Sichfestkrallen an den Codierungen der bewußtlosen Bewußtseinsform" handelt. Jedoch schränke ich "die Furcht vor der Subjektauflösung" auf eine Furcht vor der Form- bzw. Rollen-Subjekt-Auflösung ein und stelle die Relativität der untergeordneten, wenn auch massiv durchschlagenden, "Codierungen" und einer "bewußtlosen Bewußtseinsform" heraus. Und die mit Leiden verbundene "Selbstrepression" ist nur möglich, wenn dieses Selbst mehr und tiefer ist als das relative Form-Subjekt, wenn zumindest ein Rest authentischer Selbstbeobachtung mir einen Schimmer von der jeweiligen Selbstrepression offenbart und dies vor allem in intuitiv-emotionaler Weise in begleitender Verbindung mit Verstandeskräften, die die Intuitionen logisch untermauern, die zur ganzheitlichen Erkenntnis als ein integraler Akt der Persönlichkeit immer dazugehören. Nur ein Mensch ohne jegliches authentisches subjektives Empfinden und Denken, ohne authentischen Willen, obwohl er so gar nicht existieren könnte, wäre bis zum völligen Untergang der Fetischverhältnisse und somit seiner selbst ein absolut willfähriges Glied im kapitalistischen Funktionssystem und würde auch gar nicht im Widerspruch zu den gesellschaftlichen Fetischverhältnissen stehen. Zuweilen mag es Menschen geben, die über einen längeren Zeitraum dieser Willfährigkeit nahezu entsprechen, aber sie sind in diesem Zeitraum auch am wenigsten Menschen im eigentlichen Sinne, d.h. als freie, liebende, selbstwahrende und integral selbstbestimmte Wesen. Letztlich kann kein Mensch einer absolut fremdbestimmten Willfährigkeit verfallen, da dies die absolute Nichtexistenz des Menschen in jederlei Hinsicht bedeuten würde. Absolute Willfährigkeit und Existenz des Menschen schließen sich gegenseitig aus.

"Aber perverser noch und grauenhafter wäre das Hinübergleiten des warenproduzierenden Systems in die sekundäre Barbarei, wie es heute bereits in vielen Erscheinungen zu beobachten ist.

'Barbarei' ist natürlich eine Metapher für ein Geschehen, das noch keinen anderen Begriff hat. Das Wort hat einen eurozentrischen Ursprung, es wurde immer wieder im Kontext europäischer Denunziation von nichteuropäischen und vormodernen Gesellschaften benutzt. Dabei ging es um die Herabsetzung anderer Kulturen. Jetzt aber muß dieser Begriff auf die von Europa ausgehende Formation des warenproduzierenden Systems selbst angewendet werden, und in diesem Kontext kann seine Verwendung gerechtfertigt werden. Trotz ihrer äußeren Überlegenheit hatte die westliche Gesellschaft schon in ihren historischen Durchsetzungsschüben beispiellose Potentiale der Barbarisierung freigesetzt; vom Dreißigjährigen Krieg über die Geschichte des Kolonialismus und der ursprünglichen Akkumulation bis zur Weltkriegsepoche und zu den heutigen sozialen und ökologischen Zerstörungen zieht sich eine Spur der Barbarei durch die Modernisierung, die aber immer wieder durch zivilisatorische Errungenschaften kompensiert oder sogar zeitweilig abgelöst wurde. Diese Doppelgesichtigkeit der westlichen Moderne findet jetzt ihr Ende." (212 SH)

Es sei dahingestellt, wie schnell die "Doppelgesichtigkeit der westlichen Moderne... ihr Ende (findet)". Auf jeden Fall ist die Gefahr sehr groß, daß das "warenproduzierende System in... (eine) sekundäre Barbarei (hinübergleitet)". Und wenn dies weiterhin ein schleichender Prozeß ist, der über einen längeren Zeitraum den Menschen die Möglichkeit läßt, sich den unerträglicher werdenden ›Lebens‹-bedingungen immer wieder und immer noch bis hin zur Schmerzgrenze anzupassen, wird eine sogenannte "sekundäre Barbarei" in einem noch umfassenderen Ausmaß immer wahrscheinlicher. Denn der Mensch verliert mit fortdauernder Anpassung mehr und mehr sein authentisches menschliches Antlitz. Aus seinem inneren Chaos heraus ist der Mensch ziemlich hilflos und zu keiner ganzheitlichen schöpferischen, zu keiner gemeinschaftlich orientierten Verantwortlichkeit in der Lage, durch die allein er eine adäquate Antwort auf das äußere Desaster zu geben vermag. Dennoch, der Mensch als leidendes Wesen wird und kann sich mit seiner auch selbstverursachten Blindheit, mit seinem auch selbstverursachten Chaos niemals abfinden, wird, solange er lebt, gegen dieses und die entsprechenden menschenunwürdigen Verhältnisse ankämpfen. Selbst eine "sekundäre Barbarei" hat keinen ewigen Bestand, kann sich jedoch über einen langen Zeitraum hinziehen, da schon die ökonomischen Gewohnheiten und Automatismen einen Ausweg massiv erschweren. Letztlich wird der Mensch entweder gestärkt aus seinem Leidensprozeß hervorgehen oder untergehen, wenn er an einer aufwendigen, zuweilen äußerst verbrecherischen Leidensverdrängung festhält und immer nur daran unendlich leidet, daß er leidet, aber das Leiden selbst nicht annehmen will als eine im konkreten Bezug jeweils schöpferisch-ethisch zu bewältigende existentielle Realität, die zum ganzheitlichen Leben ursächlich dazugehört. Leiden am Leiden ist dunkles, böses, unschöpferisches Leiden. Ein Mensch, der so leidet, ist immer bestrebt, dieses Leiden anderen personalen Wesen aufzubürden, es an ihnen abzureagieren, um es loszuwerden. Und dieses mitleidlose Bestreben kann zuweilen grausam-tyrannische, ja exzessiv-perverse Züge annehmen. Ich persönlich halte aber eine Leidensverdrängung letztlich für begrenzt und glaube an den schöpferisch-ethischen Lebensfunken im Menschen, einen Funken, der in einem jeden Menschen waltet und nicht gänzlich ausgelöscht werden kann, solange der Mensch lebt.

"Am Ende ihres Entwicklungswegs und ihrer Durchsetzungsgeschichte angelangt, produziert die totale Warenform entmenschte, abstraktifizierte Wesen, die noch hinter das Tier zurückzufallen drohen. Die Entkoppelung von der ersten Natur bleibt bestehen, aber die letzte und höchste Fetisch-Konstitution der allgemeinen Warenform droht in ihrem objektivierten Zusammenbruch eine regel- und steuerlose Menschen- und Weltverachtung hervorzubringen. Die Entkoppelung von der zweiten Natur kann auch negativ geschehen, als blinde und suizidale Enthemmung, die aus der zunehmenden Reproduktionsunfähigkeit des Regelwerks der Warengesellschaft resultiert. Das doppelt enthemmte und von der ersten wie von der zweiten Natur entkoppelte Wesen, das gleichwohl in blinder Selbst-Bewußtlosigkeit verharrt, muß ekelhafte und perverse Züge annehmen, für die kein Vergleich aus dem Tierreich mehr taugt. Die Anfänge dieses kulturellen Zusammenbruchs sind weltweit bereits sichtbar, und nicht zufällig treten sie vor allem als moralische und kulturelle Verwahrlosung einer wachsenden Anzahl von Jugendlichen in Erscheinung. Das konservative Fetisch-Bewußtsein unter Einschluß der sogenannten Linken will diese gesellschaftliche Verwüstungspotenz der eigenen Bewußtseins- und Reproduktionsform nicht wahrhaben und scheitert mit seiner schwächlichen und heuchlerischen Ethik-Kampagne, die das konstitutive Zentralmoment des Barbarisierungsprozesses, die gesellschaftliche Warenform selber, unangetastet lassen will. So steht also die Entscheidungsfrage am Ende der Moderne noch unentschieden, aber die Zwänge aus Krise und Zusammenbruch wachsen unaufhaltsam an." (213/214 SH)

Es stimmt: Für die "ekelhaften und perversen Züge" des entfremdeten Menschen "(taugt) kein Vergleich aus dem Tierreich mehr". Es ist sogar so, daß dieser Vergleich generell hinkt und nicht taugt. Die Destruktivität des Menschen ist etwas vorher noch nie Dagewesenes. Aber nach der "radikalen Kritik" von Robert Kurz bleibt eigentlich kein anderer Ausweg übrig, als daß "die letzte und höchste Fetisch-Konstitution der allgemeinen Warenform... in ihrem objektivierten Zusammenbruch eine regel- und steuerlose Menschen- und Weltverachtung hervorbringt", d.h., daß die Destruktivität des Menschen den entscheidenden Sieg davonträgt. Denn Kurz weiß dem allgemeinen Zerfall nichts Apriorisches entgegenzusetzen. Auch ein rein "negatorischer" Ansatz an sich kann über eine haltlose und ihrem Wesen nach letztlich unschlüssige Logik nicht hinauskommen, sofern sie sich nicht klammheimlich apriorischer Grundannahmen z.B. ethischer Art bedient. Und genau dies tut Kurz indirekt schon mit der richtigen Feststellung, daß eine "moralische und kulturelle Verwahrlosung einer wachsenden Anzahl von Jugendlichen (bereits sichtbar)" wird. Doch möchte Kurz die Gründe hierfür einzig und allein auf eine allgemeine "Fetisch-Konstitution", einen subjektlosen "Form"-Mechanismus reduzieren. Den menschlichen Willen als primäre Kraft klammert er entsprechend seiner Theorie kategorisch aus. Und dabei ist es ja gar nicht so, daß der menschliche Wille von seinen Ursprüngen her eine fertige, allgemeingültige, entsprechend einer wie auch immer gearteten "Form" vorgezeichnete Antwort auf das Leben zu geben vermag, sondern diese muß konkret im Leben schöpferisch errungen werden. Der menschliche Wille selbst muß ethisch werden in seiner Bezogenheit, in seinem Transzendieren, dies verlangt eine in Liebe verbundene Gemeinschaft als Weg und anzustrebendes Ziel. Die echte Gemeinschaft verlangt, daß innere und äußere Widerstände zu überwinden sind im Sinne der Liebe, der Freiheit, der existentiell zu erringenden Wahrheit in einem jeden Menschen. Es gibt keine endgültige "Entscheidungsfrage" innerhalb des Lebens, der Geschichte des Menschen, auch nicht "am Ende der Moderne". Es gilt, die Gefahr entscheidend einzudämmen, daß der Mensch Zeiten großer Dunkelheit, Mutlosigkeit, Verantwortungslosigkeit, Zeiten des unnötigen Elends und des Verbrechens, des Verrats seines wahren Selbst verfällt in Überantwortung seines Handelns an Fremdbestimmung und an das entsprechende Macht- und Erfolgsstreben etc. Doch heute, am von Kurz prognostizierten "Ende der Moderne", stellt sich eher die Frage, ob der Mensch wirklich reif für ein selbstbestimmtes Leben im Sinne von wahrer Gemeinschaft ist. Vielleicht muß er vorher durch eine "sekundäre Barbarei", in der er sich - global betrachtet -  ja schon befindet, hindurch, um angehalten zu sein, sich endlich konsequent auf sein schöpferisch-ethisches bzw. ursprünglich religiöses Potential zu besinnen, dieses ganzheitlich zu entfalten. Aber auch dann wird keine endgültige bzw. absolute Entscheidung fallen, denn das Leben bleibt immer an eine lebendig-schöpferische Überwindung von inneren und äußeren Widerständen und Widersprüchen gebunden. Es wird sich jedoch mit dem Erstarken der leidgeprüften Persönlichkeiten auf einem ganz anderen, höheren bzw. tiefergehenden authentischen Niveau vollziehen. Je besser der Mensch seine Geschichte zu bewältigen vermag, um so stärker wird sich sein Leben auf seine Wesensbestimmung konzentrieren und von dieser ausgehen. Aber Kurz hat Recht, wenn er quasi sagt, daß es heute um so mehr gilt, der "gesellschaftlichen Verwüstungspotenz der eigenen Bewußtseins- und Reproduktionsform" offen ins Auge zu blicken und einer "schwächlichen und heuchlerischen Ethik-Kampagne, die das konstitutive Zentralmoment des Barbarisierungsprozesses, die gesellschaftliche Warenform selber, unangetastet lassen will", energisch entgegenzutreten, wobei ich sage, daß das "Zentralmoment des Barbarisierungsprozesses" tiefer liegt als in der sekundären "gesellschaftlichen Warenform selber", und zwar in der Freiheit des Menschen. Durch eine durch Ängste geschürte, fetischorientierte Anpassungswut des Menschen, zum Teil entgegen seiner erhofften Absicht, wendet sich die Freiheit destruktiv und somit paradoxerweise letztlich vernichtend auch gegen sich selbst. Letzteres geschieht immer nur relativ, denn die Freiheit als ein Urphänomen, als Ausgangspunkt des Lebens ist unerschöpflich, wird sich erneut und allezeit wieder erheben, so auch im Menschen als seine ursprünglichste Wesenskraft, deren Erfüllung bzw. existentielle Wahrheit wesenhaft in der Liebe erfahren wird. Der Mensch strebt grundsätzlich, primär-intuitiv nach Liebe, die sich zugleich im Menschen in jedem Augenblick, unerwartet, ereignen kann und ereignet.

"Das transzendente Ziel sowohl der utopischen als auch der marxistischen Konzepte war immer die (vermeintliche) Überwindung des modernen Kapitalverhältnisses durch eine irgendwie andere abstrakt-allgemeine Form gesellschaftlicher Reproduktion. Genauer gesagt war dies ein eher selbstverständliches Axiom von Gesellschaftskritik, eine implizite Annahme, die nicht explizit thematisiert wurde, weil ja das grundsätzliche Formproblem der allgemeinen Fetisch-Konstitution noch gar nicht im Reflexionszusammenhang des kritischen Denkens auftauchte." (214 SH)

Kurz' Behauptung, daß das "Formproblem der allgemeinen Fetisch-Konstitution" "grundsätzlich", d.h. bestimmend ist als "subjektlose Herrschaft", kann dazu führen, daß Gesellschaftskritik, die, ohne das sogenannte "Formproblem" im Prinzip zu übergehen, den Menschen als den primären subjektiven Akteur jeglicher gesellschaftlicher Verhältnisse ansieht, zumindest leichtfertig übergangen oder überhaupt nicht wahrgenommen wird. Da Kurz darüber hinaus von vornherein eine pauschal-abwertende, negierende Haltung gegenüber dem Problem der Religiosität einnimmt, kann die existentiell-religiös motivierte, personalistische und gemeinschaftsstiftende Philosophie eines so herausragenden und einzigartigen Denkers wie Berdjajew, der in äußerst differenzierter und erkenntnisreicher Weise fundierte Gesellschaftskritik (Marx) mit dem Problem des zutiefst religiös motivierten Menschen zu verbinden wußte, erst gar nicht ins Blickfeld geraten. Dies stellt ein großes Manko der sogenannten "radikalen Kritik" dar. Weiterhin muß Kurz mit seinem vorrangig "negatorischen" Ansatz automatisch, vorschnell, skeptizistisch Verdacht schöpfen gegenüber jeglichen weiterreichenden visionären Gedanken über eine anzustrebende befreite Gesellschafts- und Lebensverfassung der Menschen in der Zukunft, welche zumindest visionär im Geiste schon immer in der Gegenwart beginnt. Dabei spricht auch Kurz fortlaufend indirekt von der Zukunft, wenn er die Vergangenheit und Gegenwart kritisiert. Dies liegt an der authentischen, intuitiv erfahrbaren Bestimmung des Menschen zur wahren Menschlichkeit, die jedem Menschen geistig-apriorisch zugrunde liegt, aber nicht als fertige Form, sondern als ein frei anzunehmender, schöpferisch zu erringender und zu verwirklichender Inhalt, der jede ernsthafte Gesellschaftskritik mit Leben erfüllt. Utopien wird es immer geben, solange im Menschen eine mehr oder weniger starke Unzufriedenheit mit den jeweils knechtenden Lebensverhältnissen herrscht, die tiefergehend eine Unzufriedenheit mit der jeweils aufgebürdeten Fetisch-Rolle zum Ausdruck bringt, die die Menschen selbstverleugnend zu ›spielen‹ haben. Doch wenn diese Utopien lediglich auf eine "(vermeintliche) Überwindung des modernen Kapitalverhältnisses durch eine irgendwie andere abstrakt-allgemeine Form gesellschaftlicher Reproduktion" abzielen, sind sie mit Recht kritisch abzulehnen. Worauf es letztlich ankommt ist, daß die Utopien in Visionen übergehen müssen, die neben einer zu verändernden "gesellschaftlichen Reproduktion" grundsätzlich den sinn- und gemeinschaftsstiftenden Menschen in den Mittelpunkt rücken und so in ein fortlaufend schöpferisch zu verwirklichendes Leben hineingetragen werden, d.h., daß der Mensch den Utopien das Muster fetischorientierter Verhaftungen, fremdbestimmter Vorgaben abstreift und nicht mehr danach trachtet, Utopien starr, mit menschenverachtender Gewalt und Rücksichtslosigkeit, begleitend motiviert durch Ressentiments wie Neid, Rachegefühle etc., umsetzen zu wollen. Die Zukunft muß fortlaufend durch authentische, schöpferisch-ethische und zugleich gemeinschaftliche Schaffenskraft in die Gegenwart geholt und verwirklicht werden. Und letzteres können die Menschen schon heute, wenn sie jeweils ihre Persönlichkeit gegenüber den Verführungen und Zwängen des Fetischsystems stärken und verteidigen. D.h., der Mensch muß schöpferisch die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in jedem Augenblick seines Lebens vereinen, was ihm im heutigen gesellschaftlichen Rahmen besonders erschwert wird, da eine große, einflußreiche und die Verhältnisse bestimmende Masse von Menschen in unvergleichlicher Weise einem Fetisch huldigen und deshalb dazu neigen, die Entstehungsgeschichte entsprechender götzendienerischer Verhältnisse zu glätten und zu verherrlichen und gleichzeitig die destruktiven Auswüchse dieser Verhältnisse zu rechtfertigen oder zu verdrängen und die Zukunft grundlegend im Rahmen dieser Verhältnisse zu planen. Die moderne Fetischorientierung hat das Band zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in drei zum Teil gegensätzliche Lebenskonzepte separiert: erstens in einen reaktionären, den Geldadel und die damit einhergehende Macht verherrlichenden Konservatismus, zweitens in ein ödes, oberflächlich dahindümpelndes, spießbürgerlich-mechanisches Sicherheits- und Alltagsbewußtsein und drittens in einen gehetzten technik-, kapital- und systemorientierten Fortschrittswahn. Es herrscht ein geistiges Durcheinander, geistige Zersetzung und letztlich eine geistige Orientierungslosigkeit aufgrund der Verdrängung der im Menschen verankerten apriorischen Bestimmung zur Realisierung der gemeinschaftsstiftenden Persönlichkeit, d.h. aufgrund der Verdrängung wahrer, primär auf authentischer Liebe beruhender gemeinschaftsbezogener Selbsterkenntnis.

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden durch das Band des wahren, schöpferischen Lebens miteinander verbunden. Die Vergangenheit muß im Geiste, durch die gegenwärtige Zukunft, von allen verherrlichenden, götzendienerisch-verdrängenden Elementen befreit werden und in der Gegenwart zu neuem Leben erwachen. Dies ist angesichts einer zum Teil grausamen Vergangenheit vor allem auch ein Akt leidvoller Selbsterkenntnis, die sich heute über persönlichkeitszersetzende und autistische, Individualismus fördernde kapitalistische Verhältnisse der sogenannten Moderne erheben muß, die das Band zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in besonders destruktiv-radikaler Weise systematisch und ideologisch zerstört. Das neue Leben, das sich auf eine durch den im Menschen waltenden schöpferischen Geist geläuterte Vergangenheit stützt, ist zugleich die fortwährende Hereinnahme des schöpferisch-ethischen Ausflugs, der schöpferisch-ethischen Hoffnung in die zu schaffende Gegenwart und Wirklichkeit. Die zu befreiende Vergangenheit, ein Akt, der im personal-gemeinschaftlichen Geist eines jeden einzelnen Menschen zu vollziehen ist und sich zugleich auf dessen Lebensgrundlagen, sein Wirtschaften und Kulturschaffen zu erstrecken hat, muß fortwährend zur Gegenwart der Zukunft werden. Ich bin trotz aller Einwände der Ansicht, daß Robert Kurz hinsichtlich der Befreiung der Vergangenheit hin zu einer neu zu schaffenden Wirklichkeit ebenfalls einen sehr wichtigen Beitrag leistet, zumal er in seiner Kritik der Warengesellschaft und deren geschichtlicher Hintergründe den "negatorischen" ›Imperativ‹, ohne es einzugestehen, durch seine fortlaufend auch in die Bewertungen und Urteile einfließende subjektiv-apriorische Motivation primär stützt und erweitert.

"Die Versuchung ist groß, die sich selbst bewußt konstituierenden Träger einer zukünftigen Aufhebungsbewegung das 'Subjekt' dieser Bewegung zu nennen, auch wenn es kein apriorisches Subjekt mehr sein kann, das 'an sich' schon präexistent und hinsichtlich seiner Aufgabe präpotent wäre. Es würde sich dann um ein nicht-apriorisches, selbstkonstitutives Subjekt auf derjenigen Ebene handeln, die bisher von der subjektlosen, unbewußten Form besetzt war. Aber das zu verwerfende apriorische (d.h. unbewußt konstituierte) Subjekt ist das Subjekt überhaupt. Wenn das Subjekt entlarvt ist als ein seiner eigenen Form unbewußter Aktor, der sich die Außenwelt zum Objekt setzen muß, sich dabei selbst objektiviert und strukturell 'männlich' und 'weiß' bestimmt ist, dann kann die Wahrnehmungs- und Handlungsbewußtheit jenseits der zweiten Natur nicht mehr die Form der Subjektivität im bisherigen Sinne annehmen, die ihre positive und emphatische Konnotation verliert. Das zu gewinnende Meta-Bewußtsein über die zweite Natur hinaus ist keine 'Subjektivität' mehr. Für das immanente Bewußtsein paradox und provokativ läßt sich somit die historische Aufgabe auf die Kurzformel bringen: Die Revolution gegen die Fetisch-Konstitution ist identisch mit der Aufhebung des Subjekts." (220/221 SH)

Robert Kurz will partout das Subjekt aufheben, seine theoretischen Attacken jedoch wurden geboren aus seiner apriorisch motivierten leidenschaftlichen Empörung, aus seinem apriorisch motivierten Leiden an einem über weite Strecken massiv autark und suizidal fortschreitenden kapitalistischen System, dem die Menschen massenhaft anheimfallen und anheimgefallen sind. Das Subjekt wird von Kurz auf das Fetischsubjekt im allgemeinen und das jetzige Warensubjekt im besonderen reduziert, aber er selbst kritisiert aus der Tiefe seines schöpferisch-ethischen Subjekts. Gegenüber dem theoretischen Vorhaben ist und bleibt die existentielle Realität und Praxis seines Wirkens weiterhin primär subjektiv, aber nicht innerhalb einer oberflächlichen Subjekt-Objekt-Korrelation, sondern aus der Tiefe der authentischen Subjektdimension seiner Persönlichkeit heraus. Die Aufhebung des Subjekts an sich würde bedeuten, daß zugleich der Mensch, sein Bewußtsein, seine existentiell-schöpferisch-ethische Motivation/Intuition aufgehoben werden. Robert Kurz hat in meinen Augen speziell mit seiner radikalen Subjektkritik weit über das Ziel hinausgeschossen. Das tat nicht wirklich not, auch wenn die Systemtheorie (Luhmann), konsequent zu Ende gedacht, diese ›Radikalität‹ nahezulegen scheint. Doch schon die Systemtheorie, die immer nur von einem untergeordneten, beiläufigen Subjekt ausgeht, welches sich - wie auch immer - als Teilfunktion ins System einordnet, ist einem Phantom aufgesessen und letztlich in ihrem Absolutheitsanspruch eine theoretische Kuriosität mit fatalen Folgen für das Denken und Handeln der von ihr beeinflußten Menschen. Nichtsdestotrotz, in seinen konkreten theoretischen und leidenschaftlichen Attacken gegen die Auswüchse der Warengesellschaft und durch seine frische und bissige Interpretation entstehungsgeschichtlicher Ereignisse des Kapitalismus widerspricht Robert Kurz auch der Systemtheorie kraftvoll, überzeugend und anregend provokativ, gerade weil er dabei auf seine primäre (überfunktionale) subjektive Intuition wahrer Menschlichkeit nicht verzichtet.

 

2

[Ich beziehe mich im 2. Teil vorwiegend auf Robert Kurz' Essay "Tabula rasa - Wie weit soll, muss oder darf die Kritik der Aufklärung gehen?".]

 

Selbst wenn Robert Kurz die Sprache neu erfinden würde, könnte er seinem "negatorischen" Anspruch einem generell von ihm so bezeichneten "westlichen Aufklärungsdenken" (168 SH) gegenüber:

"Es gibt nichts zu erben, es gilt etwas loszuwerden. Und zwar gründlich." (98 Tr)

nicht gerecht werden. Grundsätzliche Fragen, z.B. erörtert in der Lehre von den Antinomien (Kant: Kritik der reinen Vernunft), würden mit einer neuen Sprache nicht verschwinden, sondern bestehenbleiben. Auch wenn die Erkenntnis, daß es keine logisch eindeutige Antwort auf den Weltzusammenhang gibt, heutzutage als eine Binsenweisheit erachtet wird, so gründet sie philosophisch eben auf der Lehre von den Antinomien, deren Herausarbeitung ein Verdienst Kants ist. Und die folgende Thesis stellt eine Grundwahrheit dar: "Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zur Erklärung derselben anzunehmen notwendig." (Kritik der reinen Vernunft, Reclam Stuttgart, 1998, S. 488) Dennoch müßte weitergehend geklärt werden, was es mit der "Kausalität durch Freiheit" auf sich hat, die Kurz - sich dabei offensichtlich beziehend auf Kant - vorschnell als

"sonderbare transzendentale 'Freiheit' " (Blutige Vernunft: Negative Ontologie, Horlemann 2004, S. 83)

abtut. Berdjajew beruft sich dagegen in seiner Philosophie auf die Freiheit und hat zur Klärung, Vertiefung und Erweiterung des entsprechenden kantischen Ansatzes Entscheidendes beigetragen. Obwohl ich hier nicht die Absicht habe, Kants Philosophie kritisch zu diskutieren, zumal dies meine Kräfte bei weitem übersteigen würde, erlaube ich mir die Feststellung, daß man Kant mit Gewinn lesen kann, ohne dabei in

"Ehrfurcht" vor einer der "Ikonen der Aufklärung" (99 Tr)

zu erstarren oder seiner rassistischen und durchaus stark systemorientierten Tendenz zu verfallen, die letztlich auch zu, von Kurz so benannten,

"theoretisch-philosophischen positivierenden Reflexionsgestalten des Wert-Abspaltungsverhältnisses" (102 Tr)

führte und führt, die ein Ausdruck des

"realmetaphysischen Wesen des Werts" sind, welches wiederum "kein Bild von sich machen (lässt), keine handgreifliche Devotionalie und keine Gegenständlichkeit über die banale Mystifikation des Geldes hinaus. Die Realabstraktion spottet aller sekundären Symbole und Bilder". (101 Tr)

Wobei die Bedeutung des Begriffs "Wert" abhängig ist vom Kontext, in dem er steht: Es besteht ein Unterschied zwischen dem Wert eines geliebten Menschen, der in einer unendlich höheren geistigen, in einer andersartigen existentiell-ganzheitlich-authentischen Dimension erlebt wird, und einem auf das Geld, die Ware, den Fetisch orientierten Wert, der das Leben entfremdet und abtötet. Und auch der Begriff "realmetaphysisches Wesen" ist mit Vorsicht zu genießen, sofern mit diesem auf eine den Menschen anonym und vollständig determinierende ›Realität‹ hingewiesen werden soll. Realmetaphysisch kann in Wirklichkeit nur des Menschen geistiges Selbstbewußtsein sein, das entweder authentisch-ethisch transzendierend im weitesten Sinne Beziehung herstellt oder sich durch Fremdbestimmung bzw. Fetischorientierung mehr oder weniger verliert, z.B. durch abstraktes kapital- und warenorientiertes Wertedenken. Das Entstehen der "Realabstraktion" selber ist primär von der entsprechend fetischorientierten Willensrichtung und der entsprechenden Einbindung schöpferischer Kräfte des Menschen abhängig.

Kurz stellt fest:

"Kant kann man insofern lesen, wie man das Nazi-Reichsparteitagsgelände in Nürnberg besichtigt." (117 Tr)

Kant zu kritisieren ist immer möglich und nötig, wenn es um die Kritik der modernen Warengesellschaft geht, deren Apologeten sich eben gerade auf denjenigen Kant berufen, der in ihr fetischorientiertes Konzept paßt. Es sei jedoch auch erwähnt, daß durch die schöpferisch-kritische Auseinandersetzung unter anderem mit Kants Denken Berdjajew zu Schlußfolgerungen und Einsichten gekommen ist, die ihm den Weg zu einer Philosophie des freien Geistes miteröffneten. Leider schränkt Kurz, ausgehend von seinem rein "negatorischen" Urteil über Kant und dessen wie auch immer gearteten "Subjekt-Apriorismus", zwanghaft die Wahrnehmung und Berücksichtigung anderer Denker ein, die sich auf Kant differenziert, schöpferisch-kritisch beziehen. Da es für Kurz um die gänzliche "Aufhebung des Subjekts" (221 SH) geht, sind einfach keinerlei Zugeständnisse mehr an Kant erlaubt. Kurz hat sich festgelegt, ohne mit seinem Gegenentwurf einer Subjektkritik überzeugen zu können.

Mich interessiert im Zusammenhang mit dem Essay "Tabula rasa..." (89 Tr) über den Vorwurf eines undifferenzierten Ikonoklasmus hinaus, gegen den sich Kurz wehrt, zunächst einmal die Frage, ob die "negatorisch" gehaltene

"radikale Kritik an der negativen Qualität des spezifisch modernen Fetischismus... ein Hinausgehen über jede Art von veräußerter symbolischer Bindung, die der Reflexion entzogen ist" (102/103 Tr),

überhaupt leisten kann.

Grundsätzlich halte ich die Ansicht, daß eine "veräußerte symbolische Bindung" gänzlich "der Reflexion entzogen ist", für einen Irrtum. Das liefe darauf hinaus, wie schon im ersten Teil meiner Entgegnungen erläutert, daß der Mensch einem anonymen "realmetaphysischen Wesen" vollkommen ausgeliefert wäre und nichts zur Befreiung seiner selbst aus dem fremdbestimmten Zustand beitragen könnte. Befreiung ergäbe sich dann absolut nur aus den sich zuspitzenden inneren unlösbaren Widersprüchen des Kapitalismus, Widersprüche, die auf der Grundlage einer alles bestimmenden "Fetisch-Konstitution" in Verbindung mit der

"allgemeinen Bewusstseinsform und ihrer Kategorien" (195/196 SH)

entstehen müssen - "Konstitution" und "Form" lösen sich selber auf und setzen den Menschen gegebenenfalls frei. Im günstigsten Fall wird "bewußtlose Form von Gesellschaftlichkeit... aufgelöst und durch direkte menschliche Kommunikation" (217 SH), die an und für sich nichts (Nichts - Leere) ist und zu keinerlei Einsicht führen kann, ersetzt usw. usf.

"Ein Hinausgehen über jede Art von veräußerter symbolischer Bindung" kann also nur dann geschehen, wenn über die "veräußerte... Bindung" letztlich reflektiert wird und das  auf der Grundlage wahrhaft menschlicher Urteilskraft schon heute, in einer Zeit, in der man bemüht ist, alles fetischorientiert zu funktionalisieren. Aber da Kurz jede Art "apriorischer Subjektivität" ablehnt und er deshalb auch keine primäre schöpferisch-ethische Wertefähigkeit zulassen kann, die für ihn vom festgelegten "negatorischen" Anspruch her wahrscheinlich ebenfalls in den allgemeinen Topf der "Fetischformen" gehört, bleibt es im dunkeln, wie sich ein Reflektieren und "Hinausgehen" überhaupt gestalten kann. Und sobald Kurz schließlich auf "Inhalte" pocht, muß er automatisch seinem "negatorischen" Anspruch untreu werden, denn Inhalte setzen Maßstäbe, und wesentliche Bewußtseinsinhalte müssen demnach apriorisch sein in der überchronologischen Bedeutung ›vom Früheren her‹ als ganzheitlich-authentische schöpferisch-ethische Willensmotive - dabei liegt mein Hauptaugenmerk auf der Freiheit, die auch Ausgangspunkt und Kern des Weltzusammenhanges überhaupt ist, auf der Liebe und der Wahrheitsintuition zugleich. Gäbe es dieses Apriorische nicht, liefe im Leben alles auf eine allumfassende Konkurrenz, auf einen allgemeinen Kampf der jeweiligen Inhalte hinaus - das sich daraus ergebende System hätte anonymen, "drübersteherischen" Gottstatus. Doch Gott sei Dank hat und wird das Leben dieser Totalität niemals absolut entsprechen können, weil in einer Systemtotalität kein Leben möglich wäre und aus ihr heraus entstehen könnte. Systeme sind immer nur sekundärer ›Natur‹, auch wenn sie mächtig und gewaltig sind. Sie besitzen bzw. stellen kein existentielles Zentrum dar. Selbst Kurz weiß, daß "im subjektiven Nützlichkeitskalkül nicht [alles - D.H.] aufgeht" (154 SH), nur geht er dem Nichtaufgehenden nicht wirklich auf den Grund. Sein einseitiges Beharren auf der "negatorischen" Methode läßt diese letztlich selbst zum Fetisch werden, der sich - konsequent zu Ende geführt - als  ein allgemeiner Skeptizismus entpuppen muß. Der Fetisch entsteht immer dann, wenn ein sinnlicher oder geistiger Aspekt vom ganzheitlich-authentischen Willensmotiv des Menschen abgesondert und bestimmend wird. Und auf diese Weise entstehen in der Folge dann auch sekundär "veräußerte symbolische Bindungen". Dagegen ist der authentische Mensch als zentrales existentiell-schöpferisch-ethisches Wesen zugleich Ausgangspunkt und Ziel des zu schaffenden gemeinschaftlichen Lebens und kein vereinzeltes apriorisches Prinzip, sondern apriorisch ausschließlich in seiner grundlegenden, die Welt umfassend transzendierenden Ganzheitlichkeit von Freiheit, Liebe und Wahrheit.

Mit seinem Hang zum "negatorischen" Skeptizismus nähert sich Robert Kurz bedenklich seiner eigenen Feststellung an:

"Nur dort, wo eine Fetischform durch eine andere ersetzt wird, kann Ikonoklasmus als buchstäblicher Bildersturm stattfinden oder gar die Reaktion der Bücher- und Menschenverbrennung mit sich bringen." (103 Tr)

Diese Feststellung zeugt aber auch davon, daß Kurz in der Ablehnung eines "buchstäblichen Bildersturms" letztlich seinem eigenen "negatorischen" Anspruch und "... '... dem Wunsch, Tabula rasa zu machen, ... [dem - D.H.] Ikonoklasmus, ... [dem - D.H.] Bruch mit allen Traditionen' (Anselm Jappe,...)" (Tr 99/100) nicht erlegen ist. Das apriorische Nichtaufgehende in ihm selbst gibt seiner radikal-kritischen Anklage gegen die "Fetisch-Konstitution" die Richtung und den nötigen Halt. Worauf sollte Kurz' folgende Feststellung denn auch sonst gründen:

"Das moderne warenproduzierende System ist die erste Gesellschaft, die in ihrem 'normalen' alltäglichen Gang mehr Verwüstungen anrichtet als jede noch so schwere Geburt einer neuen Formation in der Vergangenheit, einschließlich ihrer eigenen." (106 Tr)

"Verwüstungen" sind nur dort Verwüstungen, wo sie vom apriorisch wahrhaft menschlichen Standpunkt aus als solche erkennbar sind, auch unter Einbindung einer entsprechenden radikalen Kritik, die die Widersprüche eines unschöpferischen, unethischen, starren Formkorsetts aufdecken hilft. So gibt es beispielsweise in der Natur an und für sich kein Bewußtsein für Verwüstungen. Die natürliche Umwelt reagiert auf die destruktive Zugabe des Menschen mit Veränderungen, die dem Menschen und den mit ihm existierenden tierischen und pflanzlichen Kreaturen schaden können, aber nicht die natürlichen Bedingungen überhaupt in Frage stellen. Auch wenn der Mensch verschwinden und sich die Artenvielfalt um ein Vielfaches vermindern sollte, nimmt die Natur auf der Erde weiterhin ihren natürlichen Lauf, deckt das vom apriorisch wahrhaft menschlichen Standpunkt aus destruktiv Angerichtete nach und nach zu. Wiederum entsteht neues Leben auf der Erde, solange die natürlichen Bedingungen (z.B. die Stärke der Sonneneinstrahlung) dies begünstigen. Es macht die höherentwickelten Tiere und insbesondere den ethisch fühlenden und denkenden, den nach ganzheitlicher Wahrheit strebenden Menschen betroffen, wenn die Welt spür- und erkennbar eine lebensbedrohliche bzw. -feindliche Richtung einschlägt, ansonsten niemanden.

Im Sinne des schöpferisch-ethisch denkenden Menschen wird "ein Hinausgehen über jede Art von veräußerter symbolischer Bindung" auch von Kurz vollzogen, da er sich auf diese Weise eben nicht konsequent an seine theoretische Vorgabe - "Es gibt nichts zu erben..." (Tr 98) - hält. Doch Kurz' theoretische Vorgabe für sich genommen als ein das Denken des Menschen einseitig bestimmendes Prinzip muß unweigerlich selbst zum Fetisch werden.

Robert Kurz antwortet auf den "Vorwurf des Ikonoklasmus" folgendermaßen:

"Tabula rasa ist zu machen mit der kapitalistisch-abendländischen Subjektform und mit der Gebundenheit durch eine Fetischform überhaupt, deswegen aber nicht mit allem und jedem, was die Menschheit trotz ihrer fetischistischen Gebundenheit und durch diese hindurch bislang hervorgebracht hat." (112 Tr)

Es wäre ihm recht zu geben, sofern "tabula rasa" vor allem mit der "Subjektform" gemacht werden soll und nicht mit dem tieferen (apriorischen) Subjekt überhaupt, was im Grunde auch nicht möglich ist, da der Mensch niemals ohne seinen existentiellen Kern leben kann bzw. lebt. Doch Kurz geht es ja generell um die "Aufhebung des Subjekts". Da gibt es für ihn keinen Kompromiß. Zu klären ist demnach nur, was überhaupt als Überkommenes aus der Geschichte der Menschheit rettenswert wäre und wie dies geschehen kann.

"Die eigentlich legitime Frage, die sich herausschälen lässt, ist folgende: In welchem Verhältnis stehen die Subjektform und damit deren Negation zu den im weitesten Sinne kulturellen Inhalten der menschlichen Geschichte? Diese Inhalte können als Artefakte der Geschichte bezeichnet werden, sowohl der modernen als auch der vormodernen. Dabei handelt es sich um Erzeugnisse aller Art, geistige wie gegenständliche, um so genannte Produktivkräfte, um Kulturtechniken im weitesten Sinne, um 'Potenzen', die aus der Geschichte der menschlich-gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der irdischen Materie und physischen Dasein, aber auch mit sich selbst, mit der eigenen Gesellschaftlichkeit, und mit den metaphysischen Problemen der eigenen Herkunft, des Todes usw. hervorgegangen sind.

Zunächst ist hier die Betonung auf den Begriff des Inhalts zu legen. Es handelt sich um Inhalte (auch künstlerische, architektonische usw. Formen können hier als Inhalte gelten), die zwar unter dem Diktat einer fetischistischen gesellschaftlichen Formbestimmung und damit einer Bewusstseinsform stehen (der Subjektform in der Moderne), aber darin nicht aufgehen. Es gehört zum Wesen der 'Geschichte von Fetischverhältnissen', dass die Inhalte nie in der Form aufgehen, dass Form und Inhalt in einen Gegensatz treten und die Inhalte immer wieder gewaltsam nach Prokrustes-Manier der Form angepasst werden bis zu ihrer Zerstörung. Das gilt sowohl für Inhalte, Artefakte, Kulturtechniken usw. der Vergangenheit als auch für die von der jeweiligen Fetischformation selbst hervorgebrachten." (113 Tr)

Bei den "kulturellen Inhalten", den "Erzeugnissen aller Art, geistige wie gegenständliche,... so genannte Produktivkräfte,... Kulturtechniken im weitesten Sinne," handelt es sich bereits "um 'Potenzen' " (Vermögen, Fähigkeiten) sekundären Ranges. Indirekt bestätigt dies Kurz, indem er auf primärere Potenzen verweist, aus denen die sekundären "hervorgegangen sind". Einerseits gibt damit auch Kurz zu, daß man nicht einfach bei "kulturellen Inhalten" stehenbleiben und so tun kann, als stelle deren bloßes Vorhandensein als "Erzeugnisse aller Art" selbst unter Abzug ihrer gegebenenfalls fetischbestimmten "Form"-Entartung schon das erste Glied in der Kette, quasi eine absolut selbstgenügsame inhaltliche Ursache dar. Andererseits jedoch behauptet er genau das Gegenteil mit der Forderung nach einer

"Negativität der Befreiung", die "eine Befreiung zum unbefangenen Umgang mit der Eigenqualität der Inhalte aller Art (ist)". (122 Tr)

Wir Menschen dürften demnach der vom Fetisch befreiten "Eigenqualität der Inhalte aller Art" auf keinen Fall mehr etwas hinzufügen, nach dem Grundsatz,

"dass radikale Kritik keinen apriorischen positiven Maßstab haben kann... Das ontologische Bedürfnis ist unerfüllbar". (129 Tr)

Wir Menschen wären also entsprechend der Forderung und ihrem Grundsatz ebenfalls angehalten, zumindest auch die vom Fetisch befreiten und befreiungswürdigen Elemente der "im weitesten Sinne kulturellen Inhalte" völlig ›selbstlos‹, d.h. selbstverleugnend, zu achten und anzunehmen und ihnen nichts schöpferisch hinzuzufügen, denn genau das käme ja einem Vergehen an dem Prinzip der "Eigenqualität der Inhalte" gleich usw. usf. Und so befinden wir uns wieder im Teufelskreis einer unschöpferischen Fetischabhängigkeit diesmal von den jeweiligen "kulturellen Inhalten" - denn dem Menschen ist ausgehend von der "Negativität der Befreiung" ein von sich aus apriorisch-schöpferisch-ethischer Zugang zu den "kulturellen Inhalten" nicht erlaubt. Kurz hat sich in ein unlösbares theoretisches Dilemma verstrickt, zumal er eine differenzierte Unterscheidung zwischen den "im weitesten Sinne kulturellen Inhalten", "gegenständliche Erzeugnisse", und den geistig-apriorischen Wesensinhalten des Menschen als Persönlichkeit erst gar nicht in Erwägung zieht, eine Unterscheidung, die zu einer auch logisch plausiblen Lösung der Fetisch-Problematik führen kann. "Kulturelle Inhalte" an sich können uns keinen Anhaltspunkt liefern bzw. stellen

"noch keinerlei per se positive Bewertung" (113 Tr)

dar, um ihr Verhältnis zur "Subjektform" und somit die "Subjektform" selbst zu verstehen, was auch Kurz bemerkt. Dazu müssen wir schon auf tiefere Gründe zurückgreifen. Letzteres tut Kurz gewissermaßen, indem er allgemein auf die "Geschichte der menschlich-gesellschaftlichen Auseinandersetzung" verweist, nur gelangt er damit nicht wirklich zu des Pudels Kern. Mit dem Begriff "Auseinandersetzung" wird noch nichts über die Art und Weise und die Motive dieser "Auseinandersetzung" ausgesagt. So ist die Auseinandersetzung mit der Materie etc. ein vorwiegend sekundär-objektivierender Erkenntnisakt, der in der modernen Welt zum großen Teil in fetischabhängiger Ausrichtung praktiziert wird, was auch Kurz kritisiert. Die "Auseinandersetzung... mit sich selbst" kann ebenfalls im erheblichen Maße an einen Fetisch gebunden sein und heutzutage in vorwiegend objektivierender Weise narzißtisch-autistisch vollzogen werden. Kurz sagt, daß "Artefakte der Geschichte" als "Inhalte... zwar unter dem Diktat einer fetischistischen gesellschaftlichen Formbestimmung und damit einer Bewusstseinsform stehen (der Subjektform in der Moderne), aber darin nicht aufgehen". Aber inwiefern können die "Inhalte" nicht in der "Formbestimmung" aufgehen? Worum handelt es sich bei dem Nichtaufgehendem? Bei Kurz finden wir dazu theoriebedingt nichts Konkretes, sondern höchstens einen entsprechend vagen, ungenauen Hinweis auf die "Auseinandersetzung" insbesondere "auch mit sich selbst, mit der eigenen Gesellschaftlichkeit, und mit den metaphysischen Problemen der eigenen Herkunft, des Todes usw.", eine "Auseinandersetzung", die unter anderem die "... 'Potenzen' " hervorgebracht haben soll. Es ließe sich demnach also das Wesentliche des Nichtaufgehenden im existentiellen Bereich, d.h. im Subjekt, zumindest vermuten, was von Kurz wahrscheinlich nicht akzeptiert werden würde, da das Subjekt unbedingt aufgehoben werden soll. Dennoch, wir befinden uns bei der "Auseinandersetzung... mit sich selbst" im weitesten Sinne immer schon, ob wir es wollen oder nicht, im Bereich des Subjekts. In diesem Bereich geht es um die ursprünglichen Motive unseres Handelns als existentiell-subjektive Wesen. Schaffen wir das Subjekt ab, schaffen wir auch die Motive unseres Wirkens und Handelns, unserer "eigenen Gesellschaftlichkeit" ab, Motive, die sehr wohl auch sekundär-destruktiv sein können, aber von ihrer wahrhaft authentischen Herkunft her den Wesenskern des Menschen ausmachen und uns von daher nicht im kruden niederen instinkt- und fetischorientierten Sinne zugleich bestimmen. Ich wiederhole abermals, zum Wesenskern zählen grundsätzlich die intuitiv erfahrbare Freiheit, Liebe und Wahrheit der konkreten, ganzheitlich transzendierenden Persönlichkeit, aus der heraus ihr Träger, der Mensch, schöpferisch und ethisch zugleich im Leben und der Welt wirksam werden kann. Unser wahrhaftes Menschsein aus dem ursprünglich universal-authentischen Wesenskern heraus, der mehr oder weniger in einem jeden Menschen konkret schöpferisch-einzigartig, spontan und fortwährend zum Leben erweckt wird und kein fertiges Konzept darstellt, ist für eine echte Gemeinschaft die einzige unerläßliche apriorische Bedingung, die niemals ein allgemeines Zwangsverhältnis als Fetischverhältnis hervorruft und kein

"abstrakt-allgemeines Muster der Aussortierung" (115 Tr)

darstellt.

Wenn Kurz sagt, "auch künstlerische, architektonische usw. Formen können hier als Inhalte gelten", so deshalb, um einen speziellen Formdiktat-Inhalt-Gegensatz aufzeigen und kritisieren zu können. Denn in einem anderen, tieferen Zusammenhang sind jene künstlerischen, architektonischen "Inhalte" zunächst Formen bzw. symbolische Ausdrücke des Menschen geistiger Tätigkeit, des geistigen Inhalts des Menschen, ein Inhalt, der wiederum primär im Menschen schöpferisch-dialektisch und vor allem ganzheitlich entsteht, d.h., die äußere Lebenswelt wird dabei notwendigerweise integrierend einbezogen. Der Theorie zum speziellen Formdiktat-Inhalt-Gegensatz sind enge Grenzen gesetzt. Diese Theorie kann schnell zu Irrtümern führen. Gerade unter der Prämisse, daß das Subjekt kein authentisches subjektiv-schöpferisches Potential besitzen kann, da es sich generell von der "Subjektform" der allgemeinen "Formbestimmung" herleitet, wird der "Formbestimmung" regelrecht eine zumindest destruktiv-schöpferische Potenz zugesprochen, denn von wem sollten denn sonst "die Inhalte immer wieder gewaltsam nach Prokrustes-Manier der Form angepasst werden", wenn es kein apriorisch-authentisch-schöpferisches Subjekt gibt bzw. geben darf. So gesehen werden die Dinge neuerlich auf den Kopf gestellt.

Wie ich schon im 1. Teil dieser Auseinandersetzung ausgeführt habe, kann die "Formbestimmung" immer nur Gerüst, aber niemals selbst schaffend sein. Schaffend in geistig-kultureller Hinsicht ist einzig und allein der Mensch auf der Grundlage seines schöpferischen Potentials. Dieses Potential ist sowohl von seinem Wesensgrunde her ethisch als auch sekundär destruktiv-formbestimmt - letzteres heißt, daß das Potential "nach Prokrustes-Manier" ausgerichtet werden kann. Die wesentlichen Inhalte der Geschichte des Menschen sind die Beweggründe bzw. Motive, die Potenzen seines Schaffens auch von Erzeugnissen, die dadurch eine entsprechend besondere Form annehmen. Wenn Kurz von "kulturellen Inhalten der menschlichen Geschichte" spricht, so meint er in der Tat damit deren Ergebnisse als "Erzeugnisse". Dementsprechend bezieht sich der Begriff "kultureller Inhalt" eingeschränkt auf die "Gesamtheit der geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen einer Gemeinschaft als Ausdruck menschlicher..." (Duden) Schaffenskraft [Hervorhebungen - D.H.], auch wenn sie unter dem Formdiktat stehen. Das "Verhältnis..." der "... Subjektform zu den im weitesten Sinne kulturellen Inhalten" kann der Mensch wesentlich aber nur aus seiner apriorischen intuitiven Motivation der transzendierenden Freiheit, Liebe und Wahrheit und ihrem sittlichen Bezug heraus bestimmen.

Das Nichtaufgehende, wovon oben die Rede war, läßt sich also nicht an einem im speziellen Verhältnis zur "Subjektform" stehenden, zurechtgelegten Inhaltsbegriff festmachen, der sowieso nur auf "Artefakte der Geschichte", auf "Erzeugnisse aller Art" bezogen wird und deren vielschichtige und komplexe Ursachen nicht berücksichtigt. Das Nichtaufgehende ist das, was zumindest den wesentlicheren bis hin zum primär wesentlichen Inhalt unter anderem der "kulturellen Inhalte... ,geistige wie gegenständliche," ausmacht. Den Inhalt der sogenannten "Inhalte" zu erkennen, dies bedarf einer geistig-existenzphilosophischen Anstrengung und ergibt sich nicht einfach aus einem an den "Erzeugnissen" praktizierten Drauf- und Reinschauen im wissenschaftlich-objektivierenden, im empirischen Stil. Die Frage nach dem Inhalt der "im weitesten Sinne kulturellen Inhalte" ist eine Frage nach dem Sinn dieser "Inhalte", eine Frage, die der Mensch als ein nach Erkenntnis strebendes, geistig-subjektives Wesen stellt und nur er auf Erden stellen kann, da er die "kulturellen Inhalte" hervorgebracht hat. Weitergehend ist der vom Menschen, wenn auch unter ›Formzwang‹ stehende, geschaffene "kulturelle Inhalt" als "Erzeugnis" somit primär immer eine Mischung aus schöpferischem Geist bzw. schöpferischer Sinngebung und der in äquivalente Form gebrachten äußeren Stofflichkeit. Daraus ergibt sich, daß die Frage nach dem wesentlichen Inhalt zuvorderst eine aus dem Akt der Selbsterkenntnis heraus gewonnene Frage nach des Menschen ursächlichen Beweggründen, Motiven ist, die das Wirken des Menschen in der Welt überhaupt erst ermöglichen. Im Akt der Selbsterkenntnis antwortet der Mensch auf die Dinge, die da vorhanden sind und die er nicht einfach nur so hinnimmt, sondern - wenn auch noch so gering - verändert, um in jederlei Hinsicht existieren zu können. Der Sinn ist nicht das "Erzeugnis", dessen unantastbare "Eigenqualität" seines "Inhalts", sondern der Sinn wird vom geistig-schöpferischen Wesen, dem Menschen, in das "Erzeugnis" hineingetragen. Daraus ergibt sich erneut, daß die Frage nach dem Nichtaufgehenden der vom Menschen erschaffenen "Erzeugnisse" grundlegend eine Frage nach dem wahren echten Menschen als Persönlichkeitssubjekt ist, dessen Realisierung in einem jedem Menschen potentiell angelegt ist, aber nicht von einer höheren Macht garantiert wird. Der Mensch muß den Sinn seiner Freiheit im schöpferisch-ethischen Bezug erringen und begreifen. Auf diese Weise nur wird Freiheit sinnvoll, die sich wahrhaftig existentiell, im Geiste, ereignet und nicht in äußeren Dingen und Prozessen.

Nachdem der Mensch die Ehrfurcht vor den thronenden Göttern verloren hatte, war er zunächst bestrebt, Gott überhaupt abzuschaffen und dafür sich selbst als erkennendes Wesen, als einen neutralen äußeren Beobachter über den Erkenntnisgegenstand zu stellen. Dies führte weitergehend dazu, die Suche nach dem Sinn vom Erkenntnisakt abzutrennen und des Menschen wahrgenommene Ganzheitlichkeit unter dem Eindruck des aufkommenden kapitalistischen Materialismus auf die Dinge bzw. Gegenstände außerhalb seiner selbst zu übertragen, obwohl der Gegenstand nicht leidet, kein Bewußtsein hat, geistig nicht transzendiert etc., d.h. niemals eine ganzheitliche Erscheinung bzw. ein existentiell-integrales Zentrum sein kann. Es bildete sich eine neue Ehrfurcht heraus, diesmal vor dem formerstarrten, armseligen "Sinn" der äußeren Dinge und Prozesse (Systeme), der sich als verinnerlichter Gottesersatz thronend über den ganzheitlich-integralen Geist des Menschen erhob. Wiederholt fällt es dem Menschen aus ehrfürchtiger Gewohnheit schwer, zuzugeben, das der Sinn etwas ist, das niemals autark in den Dingen und Prozessen verankert ist, sondern dort nur seinen formerstarrten, symbolisch-manifesten Ausdruck findet. Der wahrhafte Sinn an sich ist jedoch dieser Formerstarrung diametral entgegengesetzt, indem er ihr widerspricht und zwar als eine sinngebende und somit verändernde, ethisch wirkende Schöpferkraft, die den Lebensfunken des Menschen im Grunde seiner Existenz, im Akt seines Handelns und Erkennens ausmacht. Infolgedessen kann es auch keine "Eigenqualität der Inhalte" geben, sofern es sich bei den "Inhalten" um "Erzeugnisse" handelt und nicht um den apriorisch-ganzheitlichen Wesenskern des Menschen als Persönlichkeit. Mit dem Begriff der "Eigenqualität der Inhalte" ausgedehnt auf die "Erzeugnisse" menschlicher Schaffenskraft im Kontext mit der Forderung nach "Aufhebung des Subjekts" ist Kurz in gewisser Weise zum Fetischdenken zurückgekehrt.

Auch wenn,

"am deutlichsten gefasst in jener berühmten, allerdings nur auf den modernen Kapitalismus selbst passenden Formulierung von Marx, ... die 'Produktivkräfte' (Inhalt) die 'Produktionsverhältnisse' (Form) in die Luft sprengen würden", kann dadurch "(im Gegensatz zur eigenen Auffassung von Marx) noch keinerlei per se positive Bewertung dieses Inhalts bestimmt (werden), sondern eben nur seine Sprengkraft, so gilt dies überhaupt für das Verhältnis von kulturellen Inhalten und gesellschaftlichen Formen in der bisherigen 'Geschichte von Fetischverhältnissen'." (113/114 Tr)

Aber es wird von Kurz, entsprechend der "Eigenqualität der Inhalte" und bezogen auf

"die Gegenstände der Welt, die Gegenstände von Natur und Gesellschaft..., auch schon ein Hinweis gegeben, worauf sich die gesellschaftliche Auseinandersetzung jenseits der Fetischverhältnisse beziehen wird: nämlich eben auf die konkrete Bestimmtheit von Inhalten". (121 Tr)

Also bisher waren die "Inhalte" in ihrer "Formbestimmtheit" nicht wirklich bestimmbar, und in einer von jeglicher Fetischabhängigkeit befreiten Gesellschaft tritt laut Kurz dann plötzlich und in wundersamer Weise genau das Gegenteil ein. Doch diesmal türmt sich die "konkrete Bestimmtheit" einer Masse gegenständlicher "Inhalte" vor uns auf, denen wir gerecht zu werden haben, ohne uns selbst als Menschen apriorisch einbringen zu dürfen. Dies wiederum bedeutet, daß auf der Basis "konkreter Bestimmtheit" keine "gesellschaftliche Auseinandersetzung jenseits der Fetischverhältnisse" stattfinden kann, sondern ein neues

"abstrakt-allgemeines Apriori" (115 Tr),

eine neue Knechtschaft seitens "gegenständlicher Inhalte" heraufbeschworen bzw. kreiert wird. Zumindest bezogen auf die "Gegenstände der Welt" soll das Prinzip des kapitalistischen Materialismus, dessen reale Umsetzung den Menschen gleichsam auf die "konkrete Bestimmtheit" seiner kapitalorientierten Gegenstände verpflichtet, durch einen eigenartigen Materialismus der "Eigenqualität der Inhalte" ersetzt werden. Demgemäß bizarr und widersprüchlich muß auch Kurz' Versuch ausfallen, die von ihm aufgestellten ersten sehr allgemeinen Kriterien zur

"Aneignung von Artefakten der Geschichte" (115 Tr)

auf die "Inhalte" anzuwenden. Dazu hier erst einmal die allgemeinen Kriterien:

"So wird die Aneignung von Artefakten der Geschichte erstens deren barbarische Abkunft nicht verdrängen und verleugnen, sondern sie im Benjaminschen Sinne [siehe Tr 114] als 'Eingedenken' bewahren. Zweitens geht diese Aneignung mit einem Prozess des Verwerfens einher, eben weil es keine 'unschuldigen' Inhalte gibt und ein bestimmter Teil davon derart formvergiftet ist, dass er ebenso wie die (und zusammen mit der) Form völlig negiert werden muss. Aber das ist eben drittens erst herauszufinden; dafür kann es kein abstrakt-allgemeines Muster der Aussortierung geben, das ja selber wieder nur eine Fetischform darstellen würde. Endlich kann es viertens eben deswegen kein Präjudiz im Hinblick auf eine Scheidung der Inhalte in moderne und vormoderne geben; weder in dem Sinne, dass die vormodernen Artefakte nicht neu entdeckt und angeeignet werden könnten, noch umgekehrt in dem Sinne, dass die modernen als kapitalistische in toto zu verwerfen wären, also in dieser Hinsicht Tabula rasa gemacht werden müsste. Jedes abstrakt-allgemeine Apriori hinsichtlich der Inhalte ist zusammen mit der Fetischform als Kriterium hinfällig geworden." (115 Tr)

Es läßt sich zunächst nichts gegen die Beseitigung eines vordergründig bestimmenden "abstrakt-allgemeinen Musters der Aussortierung" einwenden. Aber deshalb ist es lange noch nicht sinnvoll, jeglichen Anhaltspunkt der Aussortierung letztlich abstrakt in Frage zu stellen, entgegen der anzutreffenden ethischen Anhaltspunkte, die Kurz selbst explizit immer wieder in Anwendung bringt. Immerhin sieht sich Kurz genötigt, an anderer Stelle folgenden Widerspruch anzudeuten:

"Die Kritik oder umgekehrt das Aufgreifen der Inhalte, der Artefakte der Geschichte, kann immer nur selber wieder inhaltlich sein, also je spezifisch, qualitätsabhängig mit bestimmten Gründen, aber nie bloß abstrakt-allgemein in Bezug auf die Subjektform (was nur deren negative Reproduktion wäre)." (120 Tr)

Worin die "Qualitätsabhängigkeit" besteht, das bleibt im dunkeln. Dies "ist eben... erst herauszufinden", d.h. in einer "gesellschaftlichen Auseinandersetzung jenseits der Fetischverhältnisse". Auf diese Weise drückt sich Kurz mehr oder weniger um eine Diskussion über die "bestimmten Gründe" herum, außer, wenn es im gleichen Absatz um ein solch banales Beispiel eines Artefakts geht wie der "Teflonpfanne" (120 Tr), deren Beurteilung und "Aneignung" sich mit ›ungefährlichen‹ und scheinbar nichtapriorischen Maßstäben bewerkstelligen läßt. Aber der Schein trügt, denn schon die Aussage bezüglich der Teflonpfanne, daß

"sie natürlich abgelehnt werden (muss), wenn sie Krebs hervorrufen kann" (120 Tr),

macht nur einen Sinn, wenn die Aussage als apriorischen Maßstab die Gefahr für die menschliche Existenz mit sich führt. Krebs ist schlimm, weil er das Leben eines mehr oder weniger selbstbewußten sowie freiheits-, liebes-, leidens- und mitleids- und somit wahrheitsfähigen Wesens bedroht, dessen Existenz apriorische Bedeutung hat, wenn echte ganzheitliche Gemeinschaft das höchste erstrebenswerte Ziel ist, und das ist es vom Herzen her für einen jeden Menschen. Würde Kurz auf diese apriorische Bedeutung nicht zurückgreifen, hätte all seine Theorie keinen Sinn, wäre völlig haltlos. In der apriorischen Bedeutung des wahrheitsfähigen Menschen liegt das unerläßliche "Präjudiz" für eine jede gemeinschaftsbezogene Kritik der jeweils aktuellen Verhältnisse und darauf bezogen auch für die Beurteilung der materiellen und kulturellen Grundlagen des menschlichen Lebens. Und wie gesagt, es handelt sich hierbei nicht um ein "abstrakt-allgemeines Apriori". Auch die allgemeinen Kriterien, so das "Bewahren" und "Verwerfen" von "Artefakten der Geschichte", setzen insgeheim jene apriorische Bedeutung voraus, ohne welche die Kriterien sich in Nichts auflösen würden bzw. selber, an sich, zur sinnentleerten Abstraktion werden. Leider versucht Kurz diese Abstraktionen des Nichtapriorischen auf die "Artefakte der Geschichte" anzuwenden und bringt dabei nur ziemlich oberflächliche und falsche Bestimmungen hervor. Ganz allgemein stellt Kurz fest, daß es sich bei

"intellektuellen und künstlerischen Werken... in der Regel... um Denkmäler (handelt)", da "sie nicht reproduzierbar im engen Sinne der inhaltlichen Kreation sind (im Unterschied zu ihrer bloß technischen Reproduzierbarkeit)... Wir können nicht mehr wie Aristoteles oder Augustinus und nicht einmal mehr ganz wie Marx denken; aber wir können diese Werke lesen und ihre Gedanken erkennen, allerdings von einem anderen historischen Standort aus." (116 Tr)

Wir könnten Marx nicht lesen und seine Gedanken erfassen, wenn wir uns nicht zugleich seinem Denken annähern würden, d.h. nicht, daß wir gänzlich so denken müssen wie Marx, um ihn lesen zu können, im Gegenteil, wir können uns auch gedanklich von seinem Denken distanzieren, aber nur, wenn wir zumindest annähernd auch verstehen, was er meint, denkt, wenn wir uns in seine Gedanken einfinden, sie geistig nachvollziehen. Aber wichtiger noch: Wir können Marx vor allem deshalb verstehen, weil er auch ethisch, implizit und explizit, für den freiheitsbedürftigen Menschen gedacht und geschrieben hat, was als eine grundlegende Motivation die Menschen miteinander verbindet und den ursprünglichen Sinn "der inhaltlichen Kreation" insbesondere auch des Denkens von Marx ausmacht.

Weiterhin trennt Kurz den Akt der Kreation vom Akt der Rezeption ab. Das ist erkenntnistheoretisch völlig unzulässig, zumal die Möglichkeit solch einer Trennung auch durch existentielle Erfahrung nicht bestätigt werden kann. Wenn wir intellektuell, philosophisch, künstlerisch etwas kreieren, so tun wir dies nicht in den luftleeren Raum hinein, sondern haben immer auch die Rezeption, den Rezipienten im innerlichen Blickfeld. Das gehört zum Ein-mal-eins des menschlichen Schaffens (weitergehend siehe auch N. Berdjajew: Der Sinn des Schaffens. Vers. einer Rechtfertigung des Menschen, 1916 [dt. 1927]). Und genau so haben auch Marx und selbst Kurz ihre Schriften verfaßt - diese hatten und haben einen Adressaten. Selbst das Schaffen für die Kapitalakkumulation hat einen Adressaten, einen armseligen Sinn - eben das tote Ding oder gar bloß noch den aufopfernden Systemdienst, aber auf der Grundlage echter oder künstlich provozierter menschlicher Bedürfnisse, die für jene Akkumulation eine wesentliche Voraussetzung bilden und eingebunden werden. Noch einmal: "Intellektuelle und künstlerische Werke" entstehen im Akt der Kreation, der zugleich auch den Akt der Rezeption beinhaltet, und daraus ergibt sich weitergehend, daß im Akt der Rezeption zugleich auch ein Akt der Kreation vom Rezipienten (mit-) vollzogen wird und somit die Kreation und ihr Inhalt im Rezipienten geistig neu entsteht. Erfassen wir die Gedanken von Marx, kreieren wir sie als Rezipient innerlich neu. Vom "anderen historischen Standort" aus ist es uns darüber hinaus dann auch möglich, Marx Gedanken zum Teil neu schaffend zu erweitern. Wäre dem nicht so, dann hätten wir es in der Tat nur mit leblosen Denkmälern zu tun, die uns aber absolut unverständlich bleiben müßten. Aber auch Denkmäler ›existieren‹ nicht in der Weise, daß wir sie als Rezipienten einfach nur äußerlich wahrnehmen, sondern wir versuchen, diese zu ergründen und müssen sie deshalb innerlich-geistig schöpferisch anpacken, eben erneut geistig kreieren. Das gilt auch für die banalsten, vom wahrhaft menschlichen Standpunkt aus fragwürdigsten Denkmäler. Für Kurz sind Denkmäler "nicht reproduzierbare" ("im engen Sinne der inhaltlichen Kreation") und historische Erinnerungsgegenstände, denen es bezüglich der Artefakte des Aufklärungsdenken a la Kant weitgehend an lebendigem, kreativem Sinngehalt bzw. Inhalt fehlt, weshalb Kurz Kant auch auf eine Stufe mit dem Nazi-Reichsparteitagsgelände in Nürnberg stellt. Es trifft zu, daß vielen Denkmälern ein wahrhaft lebendiger Sinngehalt abgeht, doch sobald wir uns etwas bei diesen Denkmälern denken, legen wir einen Sinn (Inhalt), wenn auch an sich armseligen, in sie hinein bzw. kreieren diesen neu, ohne dabei dem ursprünglichen Anliegen gerecht werden zu müssen. D.h., Kurz' Definition von Denkmälern, die er auf "intellektuelle und künstlerische Werke" ausweitet, kann erkenntnistheoretisch nicht bestätigt werden und ist falsch. Die Errichtung von Denkmälern geschieht immer unter der Vorgabe und Annahme eines in ihm symbolisch angelegten Sinninhalts, ohne den ein Verstehen der Denkmäler nicht möglich wäre. Und dieser Sinn muß vom Rezipienten "im engen Sinne der inhaltlichen Kreation" geistig reproduziert werden, um das jeweilige Denkmal verstehen zu können. Das geistig-inhaltliche Reproduzieren ist dabei kein unlebendig-starres Wiederholen, sondern ein neuartiger schöpferischer Akt. Die Denkmäler dienen letztlich niemals nur als bloße historische Erinnerungsgegenstände, bei denen wir uns nichts weiter zu denken haben, sondern sind vom Grunde her eine Aufforderung, den wie auch immer gearteten Sinn des Vorhandenseins der Denkmäler zu ergründen.

Auch "intellektuelle und künstlerische Werke" können nicht der Definition der Nicht-Reproduzierbarkeit "im engen Sinne der inhaltlichen Kreation" unterworfen werden und sind, sofern sie explizit und implizit auf eine Vertiefung der Problematik des Menschen im weitesten Sinne gerichtet sind, weit mehr als einfache allgemeinaussagende Denkmäler, eben ein den schöpferischen Geist des rezipierenden Menschen anregender Ausdruck der letztlich unermeßlichen geistigen Vielschichtigkeit des schaffenden Menschen als ein vom Wesen her ganzheitliches Persönlichkeitssubjekt. Kurz' Vorstellung, es gäbe eine "bloß technische Reproduzierbarkeit" von "intellektuellen und künstlerischen Werken", stellt einen durch seine Theorie provozierten Irrtum dar, denn jede rein technische Reproduktion schließt eine Reproduktion ihres spezifischen kreativen Inhalts und somit die Verständlichkeit, Erkennbarkeit von "intellektuellen und künstlerischen Werken" aus. Die Wechselbeziehung und Einheit von technischem "Inhalt", womit in Wirklichkeit die technische Form (einschließlich der Formprozeß) gemeint ist, und dem kreativen und eigentlichen Inhalt kann man gar nicht zu einer Seite hin auflösen. Weiterhin ist dem kreativen Sinngehalt der intellektuellen, philosophischen, künstlerischen Werke schon gar nicht mit Kurz' abstrakten Kriterien (115 Tr) beizukommen, bleibt von diesen unberührt. Denn den Kriterien an sich fehlt jegliche schöpferisch-ethische Urteilskraft, die die echte freiheitliche Gemeinschaft zum Ziel hat, eine Gemeinschaft, die den Sinngehalt eines wahrheitsorientierten kreativen Schaffenswerks ausmacht.

"Ebensowenig können wir eine Musik wie die gregorianischen Gesänge, die Kompositionen Mozarts und Beethovens oder die so genannte traditionelle (anonyme) 'Volksmusik' hervorbringen, weil diese Musiken allesamt an eine bestimmte Zeit und deren Weltverhältnis gebunden sind; aber wir können sie spielen, anhören und in gewisser Weise genießen, Elemente daraus entnehmen und in andere Zusammenhänge bringen etc." (116 Tr)

Aber die Musik von z.B. Mozart oder Beethoven wird nicht einfach nur gespielt, gehört und "in gewisser Weise", was auch immer dies heißen mag, genossen. Sondern viel mehr können wir diese Musik mit wahrhaft echter Begeisterung spielen und hören, eben existentiell-schöpferisch erfahren, aufnehmen, im Akt des Hörens geistig-konkret neu erschaffen auf der Grundlage des emotionsgeladenen universalen Sinngehalts, d.h. der Trauer, des Leidens, der Freude, der durchscheinenden Liebe und Freiheit etc. - ein Sinngehalt, der sich zur ganzheitlich-existentiellen Wahrheit des jeweiligen Schöpfers, Kreators und Rezipienten, verdichtet und während des kreativen Aktes auf das Werk symbolisch übertragen wird. Das symbolische Werk ist das sekundäre Bindeglied zwischen dem Kreator und dem schöpferischen Rezipienten auf der primär verbindenden Grundlage ihrer jeweils konkret einzigartig erlebten und transzendierenden universalen Wesenskräfte. Der Sinngehalt großer schöpferischer Werke kann nicht auf die jeweiligen "Weltverhältnisse" reduziert werden.

Gemäß Kurz' Theorie ließe sich schlußfolgern, daß wir die bisherigen "Artefakte der Geschichte" in der Form von Musik nur insofern verstehen können, solange wir auch die "Weltverhältnisse" in ihrem jeweiligen Fetischcharakter zur Zeit der "Hervorbringung" der Musik verstehen. Um diese Schlußfolgerung zu untermauern, müßte jeweils konkret bestimmt werden, wie und wo der jeweilige Fetischcharakter in der Musik hervorklingt bzw. wodurch er konkret zum Ausdruck kommt, um dies dann mit Begriffen dingfest machen und in die Theorie einbauen zu können, um zu guter Letzt den Fetischcharakter der Musik mit dem der entsprechenden "Weltverhältnisse" in Übereinstimmung bringen zu können. Am besten anwenden ließe sich diese Methode ganz sicherlich auf die weitverbreitete Volksmusikwelle, die gegenwärtig die Menschen mit seichten Texten und einlullenden Melodien bei Laune hält. Aber auch diese Musik kann ihren Zweck nur erfüllen, weil sie sich tiefer bzw. höher angelegter Emotionen, Gefühle pervertierend bedient, die an und für sich und zunächst noch über die jeweiligen (Fetisch-) Verhältnisse hinausreichen, diesen gar widersprechen, wobei der Widerspruch sich im Volksmusikgedudel nahezu auflöst. Inwieweit die gregorianischen Gesänge und die Kompositionen Mozarts und Beethovens Fetischelemente in sich tragen, das könnte man diskutieren. Dennoch behaupte ich, bringen insbesondere Mozart und Beethoven in ihrer Musik einen hohen Grad universaler schöpferischer Freiheit zum Ausdruck. Gerade durch die 5. Sinfonie von Beethoven fühle ich mich persönlich in meinem tiefsten geistigen Herzen angesprochen und kann sowohl mit Beethoven, obwohl er nicht mehr lebt, als auch aus der gemeinsamen Rezeption dieser Komposition heraus mit anderen Menschen in echte Kommunion treten. Das Erleben von tiefgreifender Musik, zu der natürlich auch viele gegenwärtige Musikwerke gezählt werden können, steht vom Grunde her einem jedem Menschen in konkreter Einzigartigkeit, da sich jeder Mensch wesentlich im einzigartigen Persönlichkeitsvollzug befindet, offen. Auch wenn z.B. klassische Kompositionen zum Teil auf überbrachte musikalische Techniken und Gewohnheiten aufbauen, so spielen diese Elemente eben gerade dann nicht die entscheidende Rolle, wenn die jeweiligen Kompositionen uns auch heute noch wahrhaft innerlich berühren. Sie können uns berühren, weil sie nicht an die jeweiligen "Weltverhältnisse gebunden sind". Somit wäre auch eine Methode zum Klassifizieren des jeweiligen Fetischcharakters nur von begrenzter Aussagekraft. Die entscheidende Aussage hinsichtlich des Sinngehalts der Musik wird aus dem originären freien Herzen persönlich getroffen; die sich daran anknüpfende sekundäre Begrifflichkeit ist ausschließlich Mittler der Kommunikation und trägt einen starken symbolischen Charakter, der auf das geistige Erlebnis immer nur verweisen kann, dieses aber selbst nicht ist. Mit anderen Worten: Auch hinsichtlich der "Aneignung von Artefakten der Geschichte" in der Form von Musik ist der Mensch als Persönlichkeitssubjekt, d.h. als schöpferisch-ethisches Wesen, in seinem konkreten und fortwährenden wahrhaft-existentiell transzendierenden Wertungs- und Umwertungsvermögen von apriorischer Bedeutung.

Das, was Kurz ganz allgemein zu "intellektuellen und künstlerischen Werken" zu sagen hat, wird diesen nicht gerecht. Die Verwendung des Wortes "genießen" im Zusammenhang mit Musik ist uneindeutig, kann ebensogut auf einen kompensatorischen Zweck der Musik verweisen - so dient sie z.B. oft der Regeneration nach getaner abstrakter Arbeit, zum Fithalten für den verinnerlichten Systemzwang, zur Aufblähung des eigenen narzißtischen Egos etc. Für Beethoven stand mit Sicherheit nicht das Schaffen der Musik zum Zwecke des bloßen Genusses im Vordergrund. Kunst beruht wesentlich auf der innerlich-geistig-gemeinschaftlichen Verbindung des Kunstschaffenden und des schöpferisch Kunstaufnehmenden. Der Schaffende eines echten Kunstwerkes schafft niemals anonym, autistisch für sich allein oder für eine allgemeine kompensatorische Konsumtion. Kunst kulminiert für den Kunstschaffenden und den Kunstaufnehmenden wesentlich in einem Liebesakt, der von beiden Seiten in der Tiefe ihrer authentischen wahrhaften Menschlichkeit zugleich als ein existentieller Akt der Wahrheit und Freiheit erlebt wird. Der Akt der Wahrheit wiederum ist das Aufblitzen einer höheren Idee vom Menschen, einer Eingabe bzw. Intuition, deren Verwirklichung in Gemeinschaft von dem authentisch Schaffenden und dem authentisch Rezipierenden leidenschaftlich erstrebt wird. Auch eine Kunst, die sich fast gänzlich ekelerregender bzw. abstoßender Mittel bedient, um eine negativ-pessimistische Anklage zu erheben, speist sich grundsätzlich von einer Ebene, die uns den Ekel überhaupt erfahren läßt - dem Wesenskern des Menschen. Ist die ursprüngliche, intuitive Ebene schwach, werden die abstoßend-zersetzenden Verhältnisse von den jeweils Betroffenen schnell als Normalität hingenommen, gewinnen Momente der menschlichen Existenz destruktiv-dominierende Macht. Bei Elfriede Jelineks Roman "Die Klavierspielerin" kommt dies gut zum Ausdruck. Dennoch halte ich insbesondere dieses Buch für ein sehr zeitbedingtes, denn ausgehend von Menschen, deren innermenschliche Dimension existentiell-schöpferisch-ethischer Wahrheit kraftlos geworden ist, kann, wenn überhaupt, nur sehr vage und indirekt eine Vision entwickelt werden, die einen Weg aus dem individuell-innerlichen und damit auch gesellschaftlich-sozialen Niedergang weist. Beethovens 5. dagegen hat für mich visionäre Kraft, da sie an meinen existentiellen Ursprüngen rührt und mich auf diese besinnt und in mir direkt gemeinschaftsstiftend im wahrsten Sinne des Wortes wirkt. Aber dies ist meine persönliche Erfahrung, d.h., es gibt keinen objektiven bzw. abstrakten Maßstab, der die Gültigkeit der visionären Kraft der 5. Sinfonie von Beethoven festlegt.

"Die Kultur- und Produktionstechniken hingegen sind ihrer Natur nach auf technische Reproduzierbarkeit angelegt, aber auch sie können natürlich weiterentwickelt (oder eben abgeschafft) werden." (116 Tr)

Ich wiederhole hier zunächst noch einmal, was ich schon weiter oben sagte: Kurz' Vorstellung, es gäbe eine "bloß technische Reproduzierbarkeit" von "intellektuellen und künstlerischen Werken", stellt einen durch seine Theorie provozierten Irrtum dar, denn jede rein technische Reproduktion schließt eine Reproduktion ihres spezifischen kreativen Inhalts und somit die Verständlichkeit, Erkennbarkeit von "intellektuellen und künstlerischen Werken" aus. Die Wechselbeziehung und Einheit von technischem "Inhalt", womit in Wirklichkeit die technische Form (einschließlich der Formprozeß) gemeint ist, und dem kreativen und eigentlichen Inhalt kann man gar nicht zu einer Seite hin auflösen.

Den gleichen Irrtum setzt Kurz fort, indem er die "Kultur- und Produktionstechniken" ebenfalls in das spezielle Formdiktat-Inhalt-Gegensatz-Schema preßt und darüber aus dem Blickfeld verliert, daß der "Inhalt" in der Form von "Kultur- und Produktionstechniken" selber einen weit umfassenderen Inhalt nur symbolisiert, daß das technische Reproduzieren nicht von dem schöpferischen Reproduzieren des jeweiligen Inhalts abgetrennt werden kann. Die Übernahme von im Kapitalismus konkret ausgeübten Produktionstechniken ist somit auch deren konkret inhaltliche Übernahme, was bedeutet, daß also im Zusammenhang mit den

"unmittelbaren Praxis- und damit Lebensfragen" (119 Tr)

unterschieden werden muß, welche inhaltlichen Produktionstechniken keine spezifisch kapitalistischen, welche kapitalistisch pervertierte, ausgeuferte, vergiftete und welche spezifisch kapitalistische sind. Zu dieser Unterscheidung ist wiederum apriorisch nur das Persönlichkeitssubjekt mit seinem schöpferisch-ethischen und gemeinschaftsorientierten Urteils- und Umwertungsvermögen in der Lage, ein Vermögen, das angewendet zugleich eine praktische Aufhebung oder Veränderung der jeweiligen Produktionstechniken geistig vorwegnimmt oder, wenn möglich, unmittelbar nach sich zieht. Kurz stellt jedoch nur fest, daß die "Produktionstechniken natürlich weiterentwickelt (oder eben abgeschafft) werden (können)"; wie dies aber zu geschehen hat, das muß gerade in einer "gesellschaftlichen Auseinandersetzung jenseits der Fetischverhältnisse", nachdem die "Aufhebung des Subjekts" und jeglicher apriorischer Bezugnahme vollzogen worden ist, völlig unklar bleiben. Allerdings wendet Kurz seine radikale Theorie, die die "Aufhebung des Subjekts" proklamiert, nicht konsequent an. Schon die Beurteilung der Teflonpfanne (120 Tr) vollzieht Kurz nicht konsequent nichtapriorisch, aber auch die Einschätzung der bestehenden

"Kultur- und Produktionstechniken", wie das "Brauen von Bier und das Keltern von Wein", "die Schrift", "lesen und schreiben", "Naturwissen, mathematische Kenntnisse usw." (119 Tr),

muß zumindest insgeheim davon ausgehen, das diese Techniken und Kenntnisse nur dann eine "positive" (119 Tr) Bedeutung haben, wenn sie dem menschlichen Leben im weitesten Sinne dienen und nicht dieses zumindest indirekt als "Eigenqualität der Inhalte" vereinnahmen bzw. beherrschen. Letzteres kann bei Bier ganz schnell passieren. Auch die übermäßige Einengung der Verstandestätigkeit auf mathematische Probleme birgt in sich die Gefahr, daß diese eingeengte Verstandestätigkeit zur kompensatorischen Sucht wird und der jeweilige Mensch in der Folge seine existentielle Mitte, seine ganzheitliche Identität sukzessive verliert. Diese Gefahr wird natürlich insbesondere unter den Bedingungen des Kapitalismus provoziert, aber es wäre ein Irrtum zu meinen, daß mit der Beseitigung des Kapitalismus auch das Suchtproblem verschwindet. Denn das Suchtproblem reicht tiefer in die Existenz des Menschen hinein, und dies zu leugnen, das wäre gegenüber den suchtgefährdeten Menschen verantwortungslos. Unter den Bedingungen des Kapitalismus macht man sich das mehr oder weniger in jedem Menschen latent angelegte Suchtpotential freilich unverfroren zunutze und ist bestrebt, es im Sinne der jeweiligen Erfordernisse des Kapitals unaufhörlich zu steigern. Die eigentliche Lösung des Suchtproblems besteht wiederum letztlich immer nur in der Stärkung des der Sucht widerstehenden ganzheitlichen Persönlichkeitssubjekts.

"Zahllose Kultur- und Produktionstechniken... wurden durch ganz verschiedene Fetischformen hindurch überliefert und weiterentwickelt", aber "so wenig die Inhalte von der gesellschaftlichen Form unabhängig sind, ebensowenig sind sie per se und absolut nur in dieser Form darstellbar". (119 Tr)

Die Begründung für die nicht absolute Darstellbarkeit der "Inhalte" in der "Form" hört sich konkret so an:

"Das Brauen von Bier und das Keltern von Wein wurde vor Jahrtausenden wahrscheinlich in Mesopotamien erfunden, aber wir müssen nicht die gesellschaftliche Bewusstseinsform der alten vorderasiatischen Kulturen haben und nicht an ihre Götterwelt glauben, um diese Techniken in Grundzügen reproduzieren zu können. Dasselbe gilt selbstverständlich für die Schrift und vieles andere. Lesen und schreiben wird man bis ans Ende der Tage." (119 Tr)

Kurz sieht in dem "Artefakt" wie "lesen und schreiben" eine grundsätzliche Bedeutung, die eben nicht in der "Form" aufgeht, höchstens im Durchgang durch sie pervertiert wurde. Dagegen ist nichts einzuwenden. Folglich ergibt sich daraus: Der "Inhalt" kann nicht vollständig durch den "Form"-Inhalt bestimmt werden, sondern hat einen ursprünglicheren Inhalt zur Voraussetzung, an den sich anknüpfen läßt. Dieser primäre Inhalt muß das in der "Form" Nichtdarstellbare der vergifteten "Inhalte" sein. Aber wiederum finden wir dazu bei Kurz keine expliziten Ausführungen. Er erwähnt den "Inhalt" wie "lesen und schreiben" und tut quasi so, als wenn sich angesichts der allgemeinen Akzeptanz dieser menschlichen Fähigkeit/Technik eine tiefergehende Untersuchung hierzu erübrigt. Doch was macht eigentlich "lesen und schreiben" so bedeutsam? Reicht es hinsichtlich dieser Technik aus, z.B. auf die "Eigenqualität der Inhalte" hinzuweisen, unabhängig von deren Bezug zur Intention des Menschen? Wie ich schon in meinen bisherigen Ausführungen verdeutlicht habe, können wir die sogenannten "Artefakte", abgetrennt von dem Wesen des Menschen, seinen Motiven, seinem ursprünglichen Wollen, seiner Fähigkeit zum existentiell-schöpferisch-ethischen Transzendieren in die Welt hinein, nicht wirklich begreifen, geschweige denn uns aneignen. Auch eine

"befreite Gesellschaft" (119 Tr)

wird die "Inhalte" nur reproduzieren können, wenn sie zugleich die an einen neuartigen schöpferischen Akt gebundenen wesentlichen Inhalte reproduziert, und letztere sind beispielsweise mit dem "Brauen von Bier" grundsätzlich und zu allen Zeiten im Menschen angelegt, unter anderem in seinem Bedürfnis, sich zu befreien, was gerade auch hinsichtlich des Biers immer die Gefahr einer Suchtabhängigkeit nach sich zieht, die mit der Stärkung der Persönlichkeit geringer wird, da die Persönlichkeit von ihrer ursprünglich-existentiell erlebten Freiheit her die Illusion einer ›Befreiung‹ durch Drogen nicht ertragen kann und diese ablehnt. Das Bedürfnis, sich zu befreien, kann auch mit dem zeitbedingten, sekundären Inhalt einer "Götterwelt" einhergehen, welche, wie auch Kurz richtig feststellt, nicht notwendig reproduziert werden muß, um insbesondere das "Brauen von Bier" zu ermöglichen. Aber auf die in uns waltende, religiös erlebte Freiheit wiederum können wir bei allem, was wir tun, nicht verzichten.

"Es geht jedenfalls gerade nicht darum, einen 'neuen Menschen' zu kreieren, gewissermaßen aus der Retorte einer Art Meta-Modernisierung. Die Ideologie vom 'neuen Menschen' ist ein positives Konstrukt, eine schlechte Utopie, wie der Mensch eigentlich sein solle, und zwar mit Kriterien, die sich leicht dechiffrieren lassen als die Zwangsmale der Wert-Abspaltungsform und ihres totalitären Anspruchs. Das Aufsprengen des Kontinuums von Fetischverhältnissen hingegen ist an sich rein negativ; es geht allein darum, etwas loszuwerden, nämlich die Zwangsform einer jede Inhaltlichkeit vergewaltigenden abstrakten Form-Allgemeinheit." (122 Tr)

Der ›alte Mensch‹ ist ein ›Herdenmensch‹, mehr oder weniger starr und unschöpferisch angepaßt an die allgemeinen pflichtgemäßen Gewohnheiten und Gepflogenheiten seiner Zeit. In der kapitalistischen Moderne nun feiert die Herdenmentalität Konjunktur. Die Funktionalität des maschinellen Prozesses, die Ware und das Geld sind ihm zum Gleichnis geworden, dem er sich mit extrem gesteigerter, selbstverleugnender Anpassungswut verschrieben hat. In den Kerngebieten des Kapitals macht das Wohlstands-Proletariat in korrupter Weise und über weite Strecken mit dem sogenannten Unternehmertum gemeinsame Sache im Sinne der blindwütigen Anhäufung von Geld, ausgerichtet auf die Käuflichkeit all der niederen und bis hin zum Exzeß vorangetriebenen kompensatorischen Bedürfnisse eines veräußerlichten ›Lebens‹. Doch wie von Kurz selbst immer wieder mit Stringenz aufgezeigt, gelangt der kapitalistische Selbstlauf getreu des Maschinen-, Geld- und Warenprinzips mittlerweile bis in die Kerngebiete des Kapitals hinein an die absolute Grenze seines immanenten Widerspruchs; die in den Kerngebieten gewohnte Arbeits- und Wohlstandssicherheit bekommt Risse, erfährt abermals eine massive Konzentrierung bzw. Einengung seines Erfassungsgebietes. Der auf den Kapitalfetisch eingeübte und fixierte ›alte Mensch‹ ist einem stetig wachsenden Konkurrenzdruck ausgesetzt, der ihn zunehmend physisch, seelisch und geistig an den Rand seiner Belastbarkeit drängt. Über die Bedrohung, dem Druck zu erliegen, aus der Arbeits- und Wohlstandssicherheit herauszufallen und den versprochenen und erhofften Kompensationen verlustig zu gehen, die bisher ein entleertes und würdeloses Opferdasein erträglich werden ließen, erheben sich im ›alten Menschen‹ dunkle Zweifel an der Funktionstüchtigkeit des selbstregulativen Wirtschaftssystems. Aber die Zweifel des ›alten Menschen‹, sofern er nicht wirklich seiner Geistesverfassung auf die Spur kommt, orientieren sich weiterhin im starken Maße an den eingetrichterten und verinnerlichten Maßstäben seines bisher gewohnten ›Lebens‹, das sich mitsamt des globalisierten Kapitalismus in einem zunehmenden Zersetzungs- und Auflösungsprozeß befindet. Verklärend beginnt er nun, seine Erinnerungen an die ›guten‹ alten Zeiten aufzublähen. Die Wiederherstellung dieser Zeiten ist daher sein sehnlichster Wunsch, der im modernen Westen insbesondere auf die Wiederherstellung eines hohen wirtschaftlichen Wachstums gerichtet ist.

Kant wollte einen "neuen Menschen", doch sein "kategorischer Imperativ" ging ebenso dem ›alten Menschen‹ auf den Leim, wie es jeglicher Gesellschaftskritik passiert, die sich an starren formalen Grundsätzen zu orientieren versucht und diese neu formuliert dem Menschen als Maßgabe vorsetzt. Den Raum, den Kant der Freiheit in seiner "Kritik der reinen Vernunft" gewährte, schränkte er bezogen auf den Menschen wieder ein, dem er Mündigkeit, die er von ihm verlangte, im persönlich-freiheitlichen, schöpferisch-ethischen Sinne letztlich nicht zugestand. Kants Denken wurde falsch, sobald es sich vom Risiko der schöpferischen Freiheit abwandte, ohne die der Mensch eben kein Mensch im eigentlichen Sinne ist und sein kann. Freiheit bedeutet Gefahr, und vor dieser fürchtete sich Kant gerade in bezug auf die dunklen, irrationalen Seiten des Menschen. Kant war sich philosophisch sehr wohl der Unmöglichkeit eines absolut geschlossenen Systems bewußt, hatte aber offensichtlich nicht den Mut, die Offenheit auch für die menschliche Existenz, auf die es primär in unserem Leben ankommt, im weitesten Sinne zuzulassen. Dem aus der Tiefe heraus letztlich nicht berechenbaren Menschen mißtraute er, indem er das Programm einer praktischen Vernunft entwarf. Und genau am Mißtrauen knüpft die kapitalistische Moderne an, deren Apologeten von je her überzeugt davon waren, daß der Mensch vom Grunde her entsprechend fetischorientierter Vorurteile ›faul‹ und gänzlich selbstsüchtig ist und deshalb einem selbstregulativen System zugeführt werden muß. In diesem System jedoch können die ›Faulheit‹ und die Selbstsucht des Menschen nun plötzlich dem Verwertungsprozeß zweckdienlich sein: Die im gesellschaftlichen Rahmen unerreichbaren Ziele uneingeschränkten Faulenzens und grenzenloser Selbstsucht geraten erneut über den Anreiz der Ware, des Geldes etc. ins Blickfeld des Menschen und werden jetzt von ihm mit allen Mitteln angestrebt und treiben ihn zu Höchstleistungen an, was wiederum allen Menschen zugute kommen soll. Die Realität bestätigt diese primitiv-affirmative Theorie des kapitalistischen Systems jedoch nicht wirklich, höchstens nur oberflächlich und rechtfertigend; die sich ausbreitende physisch-seelisch-geistige Entwürdigung und Verelendung des Menschen, Hungersnöte und Kriege, das massenhafte Töten und Quälen von Tieren und etc. werden dabei als Randphänomene beiseitegeschoben. Das Ausmaß des Elends hat in einer globalisierten kapitalistischen Welt massiv zugenommen. Selbst das, was dem Menschen ›zugute‹ kommt, Geld, Wohlstand etc., kann im Rahmen der Kapitalakkumulation selber nur ein Auswuchs destruktiver Verhältnisse und Beziehungen sein und letztlich nur destruktiv wirksam werden.

Solange es sich also bei der Idee "vom 'neuen Menschen' " um "ein positives Konstrukt, eine schlechte Utopie" hinsichtlich "der Wert-Abspaltungsform und ihres totalitären Anspruchs" handelt, ist in Wirklichkeit der ›alte Mensch‹ gemeint, der die Verantwortung für sein Handeln nicht in schöpferisch-ethischer Weise übernehmen kann und will. Die Idee vom neuen Menschen kann aber ebensogut eine völlig andere sein, geboren aus unserer existenzrückbezüglichen Wahrnehmung, Intuition, über die wir in der tätigen transzendierenden Bezogenheit zum Leben in dieser Welt den Sinngehalt unseres Potentials zu wahrer Menschlichkeit schöpferisch erfassen. Dieser intuitiv in uns lebende neue Mensch begreift sich nicht als ein an Fremdbestimmung gewöhntes Rollen-Subjekt, sondern als dessen schöpferische Entgegnung und Überwindung. Der neue Mensch im Sinne wahrhafter Menschlichkeit kann nicht von außen kreiert werden, er muß sich jeweils konkret-individuell fortwährend neu erschaffen aus seinem existentiellen Potential heraus hin zur echten Gemeinschaft im weitesten Sinne. Die wahre Idee vom neuen Menschen meint den schöpferisch-ethischen, den liebenden, den schöpferisch verantwortlichen Menschen, der das starre Gerüst fetischorientierter Gewohnheiten, der die Herdenmentalität abgeworfen hat und von daher selbstbestimmt Gemeinschaft realisiert. Die wahre Idee vom neuen Menschen meint nicht den ein für alle Mal kreierten "neuen Menschen", der auf diese Weise wiederum sofort zum ›alten‹ wird, sondern den sich fortlaufend im Leben befreienden, den sich fortlaufend mit inneren und äußeren Widerständen schöpferisch-ethisch auseinandersetzenden Menschen. Zum neuen Menschen wird man, indem man fortwährend aus der Quelle seiner wahrhaftigen Wesenskräfte schöpft und sich um deren Verwirklichung bemüht. Und sich befreien heißt eben nicht, sich von aller Schlechtigkeit, von allem Bösen abzuwenden, als wenn man schon dadurch den inneren Frieden in Vollkommenheit erlangen könnte. Sich befreien heißt, den destruktiven Tendenzen in uns und in der Welt offen ins Auge zu blicken und, ausgehend von der in uns waltenden existenzdialektischen Kraft und Zwei-Einheit des Menschlichen und Göttlichen, eine schöpferische Antwort zu geben. Im Akt des wahrhaft schöpferischen Antwortens, in welchem Freude und Leid des Menschen dicht beieinander liegen, können wir jeweils die wahrhafte Fülle des Lebens als Persönlichkeiten in Gemeinschaft finden. Es kann also nicht nur darum gehen, "etwas loszuwerden", wie Kurz meint. Die Vision vom neuen Menschen kann eine befreiende, eine zur Befreiung motivierende sein, fern aller "schlechten Utopien". Die wahrhaft geistige Kraft als Bestimmung des Menschen wendet sich gegen das Konkurrenzprinzip, das schon in der Natur wirksam ist; die androgyne Grundverfassung des Menschen ermöglicht erst die relativierende, schöpferisch gewendete Hereinnahme der natürlich angelegten Geschlechtertrennung in den ganzheitlichen Lebens- und Gemeinschaftsvollzug, ohne dabei die natürliche Trennung beseitigen zu müssen.

"Diese Negativität der Befreiung ist eine Befreiung zum unbefangenen Umgang mit der Eigenqualität der Inhalte aller Art. Damit entsteht erst durch die Negation hindurch im positiven Umschlag ein Kriterium, das hinsichtlich dieser Inhalte gerade keinen totalitären Anspruch vermittelt und in diesem Sinne keine chinesische Mauer zwischen Vergangenheit und Zukunft errichtet. Zu diesen Inhalten gehören auch die Menschen selber, in ihrem Gewordensein wie in ihrem Werden, in ihrer Verschiedenheit. Dazu gehört ferner die Einsicht, daß Krankheit und Leid zwar gelindert, aber nicht gänzlich abgeschafft werden können; und daß der Tod zwar hinausgeschoben, aber nicht schlechthin überwunden werden kann. Es geht um die Abschaffung der unnötigen Leiden und der gesellschaftlich selbst erzeugten, um den angemessenen Umgang mit den natürlichen wie den historisch-gesellschaftlichen Inhalten;..." (122 Tr)

Das Kriterium der "Eigenqualität der Inhalte aller Art" macht aus dem Menschen im Verhältnis zu den "Inhalten" außerhalb seiner selbst wiederum einen Nachbeter; der "Inhalt" Mensch insbesondere wird zu einem von vielen degradiert. Wie nun der "Inhalt" Mensch mit den sonstigen "Inhalten" verbunden werden kann, muß auf der Grundlage des Kriteriums der "Eigenqualität" ein unlösbares Problem bleiben. Und was macht "die Menschen selber, in ihrem Gewordensein wie in ihrem Werden, in ihrer Verschiedenheit" wesentlich aus? Die "Einsicht, daß Krankheit und Leid zwar gelindert, aber nicht gänzlich abgeschafft werden können; und daß der Tod zwar hinausgeschoben, aber nicht schlechthin überwunden werden kann", ist zunächst nur eine rational-oberflächliche Feststellung und sagt nichts über die tiefere Bedeutung vor allem des Leidens und des Todes aus. Die Problematik des Inhalts des "Inhalts" Mensch findet keine tiefergehende Berücksichtigung.

Meine Mutter wußte, daß sie auf Grund ihrer Krankheit bald sterben würde, aber sie war dennoch bis zum Schluß mit dem Tod insofern nicht einverstanden, als das dieser den Sinn des Lebens in Frage stellte. Und den Sinn des Lebens erfaßte meine Mutter aus ihrem authentischen schöpferisch-ethischen Wesenskern heraus, den sie kraftvoll im Leben verwirklichte. Meine Mutter war zum Schluß verzweifelt angesichts ihrer Liebe, deren Verwirklichung ihr nicht mehr vergönnt sein würde. Sie spürte, daß ihre tätige Liebe nicht ersetzt werden kann und den sie Liebenden unwiederbringlich verlorengehen wird. Sie spürte und wußte um die Bedeutung ihrer Liebe insbesondere für ihre Nächsten. Der Tod ist in dieser Hinsicht über die Einsicht seiner Unvermeidlichkeit hinaus unakzeptabel. Dies sagt uns das geistige Herz. Meine Mutter hatte keine Angst vor dem Tod, aber sie litt sehr stark unter dem Dahinschwinden ihrer Lebenskraft. Kurz vor ihrem Tod wirkte sie zum Teil schon sehr apathisch und deprimiert. Keiner wird je mit Sicherheit ergründen können, welche Einsichten einem Menschen in den letzten Stunden seines Lebens widerfahren. Aber aus dem einfühlenden Mitleiden heraus glaube ich zu wissen, daß meine Mutter am Ende die christliche Wahrheit: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Mt 27,46) mit Bitternis erfahren mußte. Aber selbst die letzte Bitternis trägt in sich den Funken des Lebens, der Liebe, das letzte verzweifelte Aufbäumen gegen den Tod. Der Tod hat nicht das letzte Wort, da er immer, bis zuletzt, an das Leben gebunden ist. Doch die liebenden Menschen neigen dazu, den Tod mit der übriggebliebenen Hülle des geliebten Menschen, mit dessen toten Körper, zu identifizieren, d.h., sie trennen auf diese Weise den Tod als eine eigenständige Wesenheit vom Leben ab. Nur so scheint am Ende der Tod den Sieg über das Leben davonzutragen. Aber der Tod ist wie das Leben primär ein geistiges Phänomen und ansonsten, als eine allgemein-objektive Tatsache, gar nicht vorhanden, d.h., der Tod macht nur in Verbindung mit dem bewußt erlebten Leben Sinn. Bevor es keine mit Bewußtsein ausgestattete Wesen gab, hat niemand den Tod erfahren. Deshalb ist das, was nach dem Leben kommt, schon lange nicht mehr der Tod, sondern ein für den Menschen unergründliches Mysterium der Ewigkeit. Das Leben jedoch ist einerseits auf tragische Weise mit dem Tod, mit der Vergänglichkeit überhaupt verknüpft und gewinnt andererseits erst hierüber seine eigentliche widerständige Kraft. Wir leiden am Tod hin zum Leben. Das Leiden des liebenden Menschen ist deshalb der grundlegendste Prozeß des Widerstandes. Und aus dem Leiden heraus erhebt sich die Freude, die Fülle des Lebens. Wohin jedoch das letzte Leiden führt, dies vermag niemand mit Gewißheit zu sagen; denn mit dem endgültigen Ende des Lebens in dieser Welt endet auch sein immanenter ›Gegenspieler‹ - der Tod. Insofern wird mit dem Ende des Lebens der Tod überwunden.

Meine Mutter liebte die Natur. Die Natur war ihr Energiespender, in ihr fühlte sie sich geborgen, fühlte sie Vertrauen und Wahrheit. Bis kurz vor ihrem Lebensende erzählte sie immer wieder begeistert, wie sie als jugendliches Mädchen im Wald einen Baum umarmt und dabei in übervoller Freude, in übervollem Glück all ihre Verbundenheit mit der Natur und dem Leben zugleich empfunden hatte. Motiviert vor allem auch durch diese Verbundenheitsintuition versuchte meine Mutter das menschliche Leben mitzugestalten, zu verändern, zum Besseren zu wenden. Doch am Ende ihres Lebens fügte ihr eben jene Natur leidvolle Schmerzen zu, zermürbte ihre inneren Kräfte. Die geliebte Natur zeigte sich diesmal von einer anderen Seite, was meine Mutter schwer erschütterte. Hinzu kam, daß auch das soziale Leben sich nicht wirklich im Sinne wahrer Menschlichkeit gewandelt hatte. Neue Grausamkeiten, Unterdrückung, Naturzerstörung, Ausbeutung, Geld- und Kosumsucht, Automatisierung des Lebens, Entfremdung, die partielle Zunahme menschlicher Kälte etc., eben Kapitalismus pur, waren nach wie vor und mehr denn je Realität.

Einerseits, im natürlichen Sinne, ist man gezwungen, sich mit dem Schicksal einer unheilbaren Krankheit abzufinden, andererseits, vom geistigen Herzen her, jedoch nicht. Der Mensch hat ganz unabhängig vom kapitalistischen Verwertungszusammenhang vom Grunde her zunächst das ethische Bedürfnis, Krankheiten möglichst einzudämmen, z.B. mit Hilfe der Medizin, um das Leiden zu mindern. Doch letztlich ist das über den Menschen verhängte tragische Schicksal einer schmerzhaften Krankheit seitens der Natur oft nicht zu verhindern. Im Gegensatz dazu ist der Kapitalismus kein unvermeidliches Schicksal, obwohl er in der heutigen Zeit zunächst das Schicksal des in ihn hineingeborenen Menschen ist. Es gilt umfassend zu begreifen, daß der Kapitalismus grundsätzlich menschengemacht ist und deshalb gänzlich abgeschafft werden kann. Wesentlich ist der historisch entstandene Kapitalismus ein Ausdruck des Versagens des Menschen hinsichtlich der Gestaltung seines Lebens. Das in Liebe tätige Herz meiner Mutter konnte gegen die von Menschenhand errichteten destruktiven Mächte dieser Welt nichts Entscheidendes ausrichten. Von daher hatte die ohnmächtige Bitternis meiner Mutter am Ende ihres Lebens einen wahrhaft menschlichen Grund. "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben." (Joh 14,6) Das ist die primärste existentielle Erfahrung göttlich-menschlicher, d.h. christlicher Ganzheitlichkeit, aus der heraus niemals akzeptiert werden kann, daß die Welt in Ordnung ist, wie sie nun einmal ist. Der letzte in Bitternis erfahrene Schmerz muß vielleicht gerade von jenen Menschen durchlebt werden, die sich eben weder mit wohlig angepaßter Zufriedenheit in dieser Welt einrichten noch ein mehr oder weniger stumpfsinniges Rollendasein hinnehmen konnten und nun von dieser Welt Abschied nehmen müssen, obwohl es so dringend ihrer tätigen Liebe bedarf. So gesehen ist die letzte Bitternis das Los eines jeden in und um die Welt schöpferisch leidenden Menschen.

Die "Abschaffung der unnötigen Leiden und der gesellschaftlich selbst erzeugten" ist eines der grundlegenden sozialen Anliegen eines schöpferisch-ethisch motivierten Menschen. Der "Inhalt" Mensch ist also ausschlaggebend - der Mensch als ein wahrhaft verantwortungsbewußtes Wesen. Nur als ein wahrhaft verantwortungsbewußtes Wesen ist der Mensch zum "angemessenen Umgang mit den natürlichen wie den historisch-gesellschaftlichen Inhalten" überhaupt in der Lage. Aber die "Abschaffung der unnötigen Leiden und der gesellschaftlich selbst erzeugten" an sich berührt eben noch nicht die letzten Fragen, sondern ermöglicht erst eine umfassendere Auseinandersetzung mit jenen Fragen und deren geistige Vertiefung. Der "angemessene" bzw. verantwortungsvolle "Umgang mit den natürlichen wie den historisch-gesellschaftlichen Inhalten" ist nicht Selbstzweck, sondern ausschließlich von zugeordneter Bedeutung für die Verwirklichung des sich fortwährend wahrhaft erneuernden Menschen in der Gemeinschaft.

Der Tod ist völlig unangemessen und macht alle Sicherheit zunichte. Die Annäherung an den Tod ist ein geistiges Ereignis im Leben eines Menschen, das alles umwertet. Der Tod, der uns bewußt oder unbewußt in jedem Augenblick des Lebens bedrängt, wirft uns mehr oder weniger auf die Sinnfrage zurück. Der Tod ist die tiefste und erschütterndste Erfahrung am Rande und am Ende des Lebens. Der Tod ist sowohl das Eingangstor zur Liebe als auch ihr Ende. Dies sind keine bloßen Gedankenspielereien, sondern Beschreibungen existentiell realer Erfahrungen. Krankheit ist nicht einfach nur eine Tatsache, die wehtut, physisch schmerzt, sondern ist ein Anklopfen des Todes und kann zugleich die Frage nach dem Sinn des Lebens aufwerfen. D.h., die Frage nach dem Tod ist nicht nur eine Frage nach dem physischen, sondern auch nach dem geistigen Tod innerhalb des Lebens, der uns immer wieder zu übermannen droht. Die "Einsicht, daß Krankheit und Leid zwar gelindert, aber nicht gänzlich abgeschafft werden können", beantwortet in keiner Weise die Frage, warum es immer wieder Krankheit und Leid geben wird, welche nicht nur physischer, sondern vor allem auch seelisch-geistiger Art sein können. Gerade die seelisch-geistige Problematik des Menschen wird in einer postkapitalistischen, postfetischverhafteten Zeit immens an Bedeutung gewinnen. Gemäß seiner authentischen Bestimmung wird der Mensch in viel stärkerem Maße mit dem inneren Ringen nach echter Menschlichkeit zu kämpfen haben, ein Ringen, welches mit Tragik verbunden ist, die im Beziehungsprozeß insbesondere zwischen den Menschen nicht ausbleiben kann. Die Tragik der Selbsterkenntnis besteht unter anderem darin, daß wir Menschen eben nicht von vornherein gute Menschen sind, sondern daß wir jeweils im Verhältnis zur Gemeinschaft, zu den anderen Menschen, das Gute in uns auf der Grundlage unserer ethisch orientierenden Intuitionen und in der Auseinandersetzung mit den in uns ebenfalls angelegten destruktiven Kräften fortwährend schöpferisch verwirklichen müssen, die man sich nur ungern eingesteht, deren Bewältigung selber einen immensen Kraftakt erfordern kann und nicht immer gelingt. Wie Berdjajew sagt: ››Das Gute, das Gesetz des Guten vermag nicht, das Böse zu überwinden: darin liegt die Quelle der ethischen Tragik.‹‹ (Nikolai Berdjajew: Von der Bestimmung des Menschen, Gotthelf-Verlag, Bern-Leipzig 1935, S. 119) D.h. weiterhin, Selbsterkenntnis erfordert immer wieder die schöpferische Infragestellung des bis dahin Guten in uns. Das gleiche gilt auch für das vermeintlich Gute der kulturellen Erzeugnisse ("Inhalte"), für unser Schaffen im weitesten Sinne. Wir Menschen neigen dazu, das zunächst auch in guter Absicht Geschaffene zu verabsolutieren und an diesem verbissen festzuhalten, obwohl es sich vom sich fortlaufend wandelnden schöpferisch-sittlichen Werten und Umwerten aus nicht mehr rechtfertigen läßt.

Doch tiefer noch als die ethische Tragik des Guten ist die Tragik der Liebe. Die immanente Tragik der Liebe wird erst dann in voller Stärke hervortreten, wenn die sozialen Konflikte und Mißstände soweit aufgelöst werden konnten, daß sie den Menschen notwendig nicht mehr vereinnahmen und auf diese Weise im Geiste beherrschen. Diesen Zusammenhang hat Berdjajew vor allem auch in seinem Buch "Von der Bestimmung des Menschen" überzeugend aufzeigen können.

Die Liebe ist zum einen die erschütterndste, die alles - einschließlich den Tod - überragende existentielle Erfahrung, die den ganzen Menschen erfassen kann und seine primärste Motivation zur wahrhaften Menschlichkeit ist - vor allem auch hinsichtlich des Widerstandes gegenüber einer zur Grausamkeit neigenden Welt -, während sie zum anderen eng mit dem Tod verwoben ist, wie ich es im ersten Teil meiner Kritik angedeutet habe. Gerade in dem Konflikt mit dem Tod kann die Kraft der Liebe in ihrer Tiefe und Wahrhaftigkeit in Erscheinung treten. Tragisch ist die Liebe, da sie konkret ausgerichtet, d.h. persönlich ist. Die allgemeine, gleichermaßen alles umfassende Liebe ist dagegen eine suggerierte Illusion, ist ein Ausweichen, ein Vermeiden echter Liebe. Die Konkretheit der Liebe erlaubt es nicht, die Liebe gleichermaßen auf die verschiedenen ››geistigen Lebenssphären‹‹ aufzuteilen. Die Liebe verlangt letztlich, daß die Person ihre liebende Kraft ganz für einen der am höchsten erachteten geistigen Werte, z.B. für die Liebe zu einer anderen Person oder für die Liebe zur schöpferischen Berufung welcher Art auch immer, hingibt, ohne dies in absoluter Vollkommenheit zu können. Im Menschen entsteht aus dem Verhältnis der am höchsten erachteten ››geistigen Lebenssphäre‹‹ zu den anderen, den nun mehr oder weniger vernachlässigten ››geistigen Lebenssphären‹‹, die ebenfalls als wichtig erachtet werden, existentiell-innerlich Tragik. Die Forderung der Liebe nach konkreter Hingabe setzt die Fähigkeit des Menschen zur im schöpferischen Sinne freien sittlichen Wahl voraus. Weitergehend zitiere ich Berdjajew:

››Die Liebe trägt in sich das ewige tragische Prinzip, das in keiner Beziehung zu den sozialen Formen steht und unzertrennlich und geheimnisvoll mit dem Tod verbunden ist. Die Tragik der Liebe würde bestehen bleiben, wenn auch nur zwei liebende Herzen in der ganzen Welt existiert hätten. Tragisch ist nicht nur die unbeantwortete Liebe; noch tragischer ist vielleicht die Liebe, die von Gegenliebe gekrönt wird. Nur wenn alle sozialen Hindernisse überwunden sind, vermag sich die ewige Tragik der Liebe in ihrer Reinheit zu offenbaren. Sie entsteht, wenn die Menschen vollkommen frei geworden sind, und wenn vor dem Angesicht der Freiheit sich ein Zusammenstoss der Werte ereignet: der Liebe mit der Freiheit oder mit der schöpferischen Berufung, oder mit der höheren Liebe zu Gott und der göttlichen Vollkommenheit; wenn anders dem liebenden Menschen der Kampf zufällt um die ewige ebenbildliche Gestalt des Menschen, mit der die Liebe verbunden ist, mit dem sie aber auch in Konflikt geraten kann. In den letzten Tiefen der Liebe enthüllt sich Feindschaft. Falscher Instinkt, falsche Anschauungen und Ideen, falsche Angst vor der Gesellschaft, - all dieses verhindert die Menschen, offenen Herzens miteinander zu verkehren und hebt die Möglichkeit wesentlicher und echter Beziehungen auf. Das menschliche Leben ist durch atavistische Aengste und Schrecknisse entstellt. Die Befreiung von ihnen ist eine grosse sittliche Aufgabe. Allein, diese Befreiung bringt mit sich nicht nur Lebensfreude; sie enthüllt auch eine neue Lebenstragik.‹‹ (Nikolai Berdjajew: Von der Bestimmung des Menschen, Gotthelf-Verlag, Bern-Leipzig 1935, S. 215)

Ich möchte mit dem Hinweis auf die existentielle Problematik des Menschen nur andeuten, womit es konsequent durchdachte radikale Kritik insbesondere an der westlichen Moderne letztlich zu tun haben muß im Gegensatz zur vermeintlichen Möglichkeit einer "emanzipatorischen Aufhebung des Subjekts" (SH 221). Zur Vertiefung der existentiellen Problematik im Verhältnis zur sozialen verweise ich von meiner Seite deshalb auf das umfangreiche Werk Nikolai Berdjajews, in welchem eine beeindruckend einzigartige schöpferische Dichte tiefen integralen Denkens zum Ausdruck kommt.

Die Welt ist keine fertige, vollkommene Ordnung, sondern verlangt eine schöpferische Antwort des Menschen, der jedoch nach Vollkommenheit, nach dem Ideal strebt. Die Einsicht des Menschen muß dahin gelangen, daß es kein Ideal auf Erden geben wird, denn dieses kann immer nur eine das Leben vernichtende Totalität sein. Das Ideal, das der Mensch in Wahrheit anstreben kann, ist gänzlich anderer Art, d.h. nur geistig, in der Fülle des Lebens, der Liebe und Freiheit zu finden. Der Mensch in Wahrheit hat das authentisch-ethische Bedürfnis, aus seiner schöpferischen Fülle heraus die Welt tätig-liebend zu vervollkommnen und Leid und Krankheit zu lindern. Solange der Mensch liebt, wird er diesem Bedürfnis nachkommen. Zerstört er seine Liebe, die an die Verwirklichung seiner gemeinschaftsorientierten Persönlichkeit gebunden ist, zerfällt und stirbt auch sein ursprünglich wahrhaftes Bedürfnis. D.h. wiederum, die innere Wahrheit des Menschen bildet die primäre Voraussetzung seiner schöpferischen Arbeit und Tätigkeit und Beziehungen im Leben. Diese apriorische innere Wahrheit ebenfalls als eine "blinde Form-Konstitution des Bewußtseins" (193 SH) bezeichnen zu wollen, würde zu einem extrem pessimistischen Menschbild führen: Der Mensch entbehrt jeglicher Freiheit und ist von innen heraus zu keinem sinnvollen Handeln in der Lage. Der Realität des Kapitalismus liegt genau dieses absolut hoffnungslose Menschbild zugrunde.

"Wenn Jappe sich dabei auf das Moment der Nicht-Übereinstimmung der Individuen mit den Fetischverhältnissen beruft, vor allem den modernen, dann scheint mir auch darin ein Missverständnis. zu liegen. Diese Nicht-Übereinstimmung existiert zwar, aber allein in Bezug auf die jeweilige Fetischform und deren Leidensverhältnisse. Sie zeigt, dass die Individuen in den Formzuständen nicht aufgehen. Aber dieses Nicht-Aufgehen kann keineswegs als selbständige positive Bestimmung von ihrer Vermittlung mit der Negativität der Fetischverhältnisse abgetrennt und zu einem 'ontologischen Wesen' der Vormoderne gemacht werden, auf das zu bauen wäre. Es gibt zwar die Nicht-Übereinstimmung, aber es gibt kein solches Wesen.

Das Leiden ist kein Wesen. Erlebtes Leiden kann Ausgangspunkt und negativer Maßstab der Kritik werden, aber es ist kein eigenes Sein, das unabhängig von dem, woran gelitten wird, als positiver Wesensgrund angerufen werden könnte. Dann hätten wir es gerade mit dem ideologischen Konstrukt einer von den aufklärerisch-modernen Verirrungen bloß frei zu legenden 'menschlichen Natur' zu tun,..." (127/128 Tr)

Wenn man die Innerlichkeit des Menschen dynamisch auffaßt, läßt sich sehr wohl, wenn nicht gerade von einem "ontologischen", so doch von einem existentiellen Wesen sprechen. Die dynamische Auffassung begreift den Menschen aus seinen ursprünglichen Wesenskräften heraus, die der Mensch sukzessive im Beziehungsverhältnis zur Welt, diese transzendierend, zu verwirklichen trachtet. Das in Erscheinung treten der Wesenkräfte verläuft vor allem tragisch, widerspruchsvoll, da der Mensch eben nicht von vornherein in Güte daherwandelt, sondern Güte, d.h. seine Persönlichkeit realisieren muß etc.; so kann z.B. der im Menschen angelegte natürliche Egoismus ihm gerade unter den Bedingungen des Kapitalismus schnell zum Verhängnis werden. Das ursprünglich existentielle Wesen des Menschen ist auch keines der Vormoderne, sondern das Ewige in uns nicht im zeitlichen, sondern im wahrhaft menschlichen, universalen Sinne. Als vom Ursprung her geistiges, als ein von Freiheit und Liebe herrührendes Wesen ist der Mensch überzeitlich und von daher apriorisch. Wäre dem nicht so, und dies habe ich in meiner Kritik zu verdeutlichen versucht, müßte der Mensch gänzlich fremdbestimmt handeln, was ihn jedoch letztlich völlig lebensunfähig machen würde, da er so auf die Welt nicht mehr aktiv reagieren könnte. Ohne einen letzten Rest Selbstbestimmung kommt kein Mensch im Leben zurecht, müßte er alsbald sterben, sofern man ihn künstlich nicht weiter am Leben erhält. In der Tiefe des Menschen existiert somit das "Nicht-Aufgehen" als der Impuls seines Lebens, der jedoch erst im Beziehungsverhältnis zur Welt vom Menschen schöpferisch-neuartig hervorgerufen und bestimmt werden kann und sich erst in diesem Zusammenhang entweder als wahr oder lügenhaft bzw. unwahr bestimmen läßt. Die existentielle Bestimmung des Menschen zur Freiheit, Liebe und Wahrheit erfordert Mut zum Widerstand, da die Welt immer wieder Anpassung fordert, die bis zu einem gewissen Grade vom Menschen geleistet werden muß. Was sich als wahr vom Herzen her bestimmen läßt ist letztlich kein Ding, sondern die wahrhaft lebensvolle gemeinschaftsorientierte personale Existenz, die erst ein ethisches Handeln ermöglicht.

Es ist der Mensch, der leidet. Und er leidet als körperlich-seelisch-geistiges, d.h. als ganzheitliches Wesen am Gegenstand, am "Inhalt", an der "jeweiligen Fetischform und deren Leidensverhältnisse"; er leidet am Widerspruch seines Wesens zu dem, was sich zu seinem Wesen zumindest partiell im Widerspruch befindet. Dies schließt nicht aus, daß der Widerspruch, an dem gelitten wird, verdrängt oder auf andere Dinge, Prozesse, Menschen - z.B. Ausländer, Juden etc. - projiziert wird, in der Hoffnung, die vermeintliche Ursache des Leidens und das Leiden selbst schnell und bequem loswerden zu können und nicht in die eigene Tiefe gehen zu müssen. Der Widerspruch und das daran anknüpfende Leiden wird physisch, seelisch und geistig erfahren und umfaßt immer alle drei Wesenheiten des Menschen zugleich, ganzheitlich; anders existiert kein Mensch, überhaupt kein personales Wesen. Das Leiden setzt einen existentiell-wahrhaften und nur in diesem Sinne "positiven Wesensgrund" voraus, es erhebt sich geradezu aus diesem, ansonsten würde der betroffene Mensch an keinem Gegenstand, an keiner Widrigkeit etc. leiden, könnte bis zum Umfallen, bis zum Tod fetischangepaßt funktionieren, ohne sich zu wehren, ohne sich überhaupt wehren zu wollen. Dies allerdings passiert zuweilen dann, wenn die Persönlichkeit des Menschen soweit vom Fetischdrill geschwächt worden ist, daß der Mensch nicht mehr die Kraft und den Mut aufbringen kann, der inneren apriorisch-authentischen Stimme, die vom Grunde her Widerstand fordert, zu folgen. Aber genausogut kann der innere Drang zur Befreiung von Leidenszuständen pervertieren, indem dieser Drang auf eine vermeintliche Leidensursache projiziert und an dieser exzessiv zerstörend ausgelassen wird. Nichtsdestotrotz ist das Leiden ein ganzheitlicher Prozeß des mehr oder weniger selbstbewußten personal-subjektiven Wesens, höherentwickelte Tiere eingeschlossen. Es gibt eine ursprünglich "menschliche Natur", sie ist geistiger Art und äußert sich vor allem auch im authentischen Gewissen, welches unabdingbar mit einem Leidensprozeß verknüpft ist.

"Das Leiden ist kein Wesen." Das stimmt, denn außerhalb der personalen Ganzheitlichkeit existiert es nicht. Es ist der Mensch, der leidet und nicht das Leiden selbst. Das Leiden existiert im Verbund mit dem ganzen Menschen, ist eines seiner Wesensgründe, erhebt sich aus der real erlebten geistig-religiösen ›Natur‹ des Menschen und ist eine Weise der Erkenntnis, die niemals nur das Leiden an sich beinhaltet, sondern immer im Zusammenhang mit dem ganzen Selbstbewußtsein erfahren wird, einschließlich der Ratio, auch wenn letztere vielleicht nur am Rande erscheint. Die Auffassung von Anselm Jappe, es gäbe quasi ein "natürliches Wesen" im Menschen, "das sich heute gegen die Zumutungen des Kapitalismus wehrt" (127 Tr), ist dahingehend kritikwürdig, daß es sich bei diesem "natürlichen Wesen" um eine "... 'Natur'..." handeln soll, die "im Rahmen der Menschheitsentwicklung" auf eine "binnengeschichtliche 'Natur'..." (127 Tr) reduziert, eingeengt wird. Woher sich diese "binnengeschichtliche 'Natur'..." letztlich speist, wird nicht klargestellt bzw. herausgearbeitet. Das es sich dabei um einen im geistig-persönlichen Sinne überzeitlichen, übergeschichtlichen, ein vom Menschen mehr oder weniger leidenschaftlich, emotional-religiös erlebten existentiellen Wesensgrund handeln muß, wird von Jappe ausgeblendet oder nicht erkannt. Ein existentieller Wesensgrund, von dem aus der Mensch urtümlich-schöpferisch in die Welt hinein transzendiert, paßt nicht in eine Theorie, die dem freiheitsnegierenden Glauben anhängt, der Mensch sei vor allem ein geschichtlich und gesellschaftlich determiniertes Wesen. Von Kurz dagegen wird jede wie auch immer geartete Behauptung eines "positiven Wesensgrundes" als "ideologisches Konstrukt einer... bloß frei zu legenden 'menschlichen Natur'..." abgelehnt; die Ablehnung richtet sich insbesondere gegen die "Aufklärungsideologie" und ihre "bloße Umkehrung". Kurz möchte, daß sich der Mensch von jedem Halt, auch von dem Inneren, uneingeschränkt löst, da er undifferenziert hinter jedem Halt die gleiche Totalitäts-, "Form"- bzw. Herrschaftsgefahr vermutet. Doch damit wird der Mensch generell seiner selbstbestimmten Freiheit, überhaupt seiner Lebensfähigkeit beraubt. Darüber hinaus macht die quasi geforderte allgemeine Haltlosigkeit den Menschen zum Spielball der "Eigenqualität der Inhalte aller Art".

"Nicht zuletzt das Mutterwesen wäre als ontologischer Grund der Befreiung ein ebenso grauenhafter Flop wie das Arbeitswesen. Zusammen mit der 'Männlichkeit' ist auch die 'Weiblichkeit' abzuschaffen. Gerade in dieser Hinsicht gilt umso mehr: Ikonoklasmus now!" (128/129 Tr)

Die extremen Formen der Geschlechter-"Abspaltung" (128 Tr) und der Kapitalismus, in welchem diese "Abspaltung" äußerst pervertierend vorangetrieben wird, sind gesellschaftliche Realität. Dennoch bleiben die männlichen und weiblichen Anlagen in einem jeden Menschen grundsätzlich existent, auch wenn die weiblichen Anlagen insbesondere vom rollenverhafteten Mann schnell und gern verdrängt werden. Eine pauschale Forderung nach Abschaffung von "Männlichkeit" und "Weiblichkeit" dringt nicht zum Kern der Geschlechterproblematik vor, zumal diese Begriffe die Realität nur überspitzt wiedergeben. "Männlichkeit" oder "Weiblichkeit" an sich, absolut, existieren so nicht, weil sich der Mensch überhaupt so absolut nicht aufspalten kann, nicht einmal im Kapitalismus.

In der Fülle meines Lebens erlebe ich schöpferisch-geistig in mir sowohl die eine als auch die andere Seite des Geschlechts als wesentliche, unaufhebbare Bestandteile meiner Persönlichkeit. Berdjajew sprach von dem androgynen Wesen des Menschen als einer existentiellen Realität und hat sich dabei insbesondere auf Jakob Böhme berufen. Der androgyne (d.h. der männliche und weibliche), der beide Seiten existenzdialektisch umfassende Wesenszug des Menschen versetzt ihn in die Lage, die auch schon von Natur aus angelegte Getrenntheit von "Männlichkeit" und "Weiblichkeit" hin zu einem schöpferischen, einfühlsamen, gemeinschaftlich-liebenden Verbund der natürlichen Geschlechter zu erheben. Die natürlich angelegte Trennung in Geschlechter hat mit dem Erscheinen des Menschen eine neue Dimension erlangt. Vor allem auch aufbauend auf dieser natürlichen Trennung kann die Intuition transzendierender Liebe zur Liebe der einander liebenden Persönlichkeiten erhoben werden. Die Persönlichkeit, die als Mikrokosmos und Mikrotheos ein ganzheitliches Universum ist, wird dabei als höchster bzw. tiefster geistiger Wert erfahren und erkannt. Die Liebe lebt von, vertieft sich in der schöpferischen Spannung der Zwei-Einheit der einander Liebenden und schwächt sich ab, wenn die Spannung nachläßt. Jedoch die ganzheitliche Erfüllung der Liebe erfahren die einander Liebenden in Freude und Seeligkeit, welche sich mit jener schöpferischen Spannung in Wechselwirkung befindet und diese Spannung fortlaufend aufhebt. Die schöpferische Spannung ergibt sich vor allem auch aus der unablässigen Konkretheit echter Liebe. Ein von Natur aus hermaphroditisches Wesen würde wohl nur schwerlich zur geistigen Verwirklichung der zwei-einheitlichen Liebe fähig sein, die den Gipfel der Liebesfähigkeit des Menschen ausmacht. Die Zwei-Einheit des Menschen erfüllt sich aber auch schon in der Mutter- bzw. Vaterliebe zum Kind und umgekehrt.

"All das bedeutet natürlich letzten Endes, dass radikale Kritik keinen apriorischen positiven Maßstab haben kann, dass sie immer ungesichert ist,..." (129 Tr)

Ich sage, daß radikale Kritik, obwohl sie einen apriorischen Maßstab hat, und zwar die schöpferisch-ethische Wahrheitsintuition des Menschen, dennoch nicht gesichert ist im Sinne eines vom Grunde her starren "Form"-Gerüstes, das keine Freiheit im Schaffen, im Lieben etc. mehr erlaubt. Die Wahrheitsintuition, das reine Gewissen, ist der ursprünglichste Impuls des Menschen zur wahren Menschlichkeit, ist Ausgangspunkt der Selbsterkenntnis. Aber das allzu Menschliche ist auch verlogen, nährt sich aus der Quelle der Freiheit, die eine Freiheit zum ›Guten‹ und zum ›Bösen‹ ist, was einem die Selbsterkenntnis nicht immer leicht macht. Die Wahrheitsintuition steht nicht ausgeformt vor uns, ist kein kruder "Formzwang", ist kein vorgefertigtes positives Konstrukt. Im Leben muß die Wahrheit in der Auseinandersetzung mit den komplexen Bestrebungen menschlichen Wollens, Wirkens, Schaffens, die sich aus einem ebenfalls komplexen natürlichen, sozialen, personalen Beziehungsgeflecht ergeben, begleitet von Zufällen und Schicksalsfügungen, errungen werden. Dabei hatte der Mensch immer auch das Bedürfnis, die ›Dinge‹ zu vereinfachen, den ›Dingen‹ ihren freien Lauf zu lassen. Dies führte unter anderem zu solch unmenschlichen Ausartungen wie das ›liberalistische‹ Wirtschaften - eine prozessuale Erscheinung menschenunwürdiger, verbrecherischer Verantwortungslosigkeit, ein Verzicht auf Liebe und Wahrheit. Die Erhebung von Liebe und Wahrheit zur Grundlage der Gestaltung des sozialen Lebens ist kein problemloses Unterfangen, ist zuweilen ein Wagnis, eine Gefahr, kann äußerst unbequem sein, ist nicht von Vorteil hinsichtlich egozentrischer, individualistischer Ansprüche. Die Erhebung von Liebe und Wahrheit ist vor allem mit der vermeintlich einfachen Lösung eines im Sinne der Autopoiesis selbstregulativen Systems in keiner Weise vereinbar, das den Menschen zur sekundären Randfigur herabwürdigt. Der Mensch muß im Mittelpunkt stehen, aber nicht als destruktives Herrschaftswesen, sondern als gemeinschaftsstiftende Persönlichkeit, die einzig auch der in allen Menschen konkret und leidenschaftlich verwurzelten Wahrheitsintuition schöpferisch bzw. frei gerecht werden kann. Der wahrhaft neue Mensch als gemeinschaftsstiftende Persönlichkeit transzendiert in Liebe in die Welt hinein - und das heute schon und zu allen Zeiten seines Existierens. Doch dieser neue Mensch weiß auch, daß er kein von vornherein unproblematisches Wesen ist, daß er die immanente Tragik der Liebe unhintergehbar in sich trägt, die jede Perfektion, jede absolute Vollkommenheit im ganzheitlichen Leben ausschließt. In Wahrheit vollkommen kann nur die Liebe im Augenblick ihrer geistig-existentiellen Erfüllung sein.

 

Entscheidend im Gegensatz zu jenen

"... 'Potenzen'... Soweit dieser Begriff unter jene Bestimmung fällt, die ich [R. Kurz] als Artefakte der Geschichte im weitesten Sinne zu fassen versucht habe" (131 Tr),

ist die schöpferische Potenz des Menschen, welche auch die Grundlage zur Schaffung sämtlicher "Artefakte der Geschichte" bildet. Mit Schöpferkraft hat der Mensch neue Welten hervorgebracht - ökonomische, kulturelle, geistige. Die schöpferische Potenz des Menschen erhebt sich aus der Potenz des Weltengrundes überhaupt. Ohne eine ursprüngliche Potenz zu Neuem wäre die Welt überhaupt nicht im Prozeß und somit nicht existent. Woher kommt die Potenz, die zur Ausbildung einer neuartigen Qualität führt? Der Physik-Szientismus erhebt den Anspruch, die Welt bald oder irgendwann vollständig erklären zu können. Aber selbst die neusten Erkenntnisse zur Stringtheorie können diesem Anspruch nicht einmal annähernd entsprechen; sie sind lediglich ein reines Aufzählen und Beschreiben von mikrokosmischen Zuständen, Prozessen. Weshalb irgendein ursächlicher Zustand oder Prozeß in einen qualitativ höheren, umfassenderen transformiert, wie es zur Ausbildung einer neuen, zuvor nicht dagewesenen Qualität kommen kann, bleibt für die empirisch-theoretische Wissenschaft unerklärlich. "Potenzen" wie die

"Verhüttung von Eisen" oder die "Produktion von Mikrochips" etc. (131 Tr)

sind zwar von beachtlicher, aber dennoch nur von sekundär zugeordneter Bedeutung. Dies gilt insbesondere für die Verwendung dieser "Potenzen" in einem

"veränderten gesellschaftlichen Kontext". (131 Tr)

Entschieden wichtiger sind die schöpferischen Potenzen des Menschen, die zur Ausbildung einer neuen Qualität des "gesellschaftlichen Kontextes" führen und die sekundären "Potenzen" entsprechend nutzen und verändern. Der Mensch muß Vergangenheit und Zukunft in die Gegenwart schöpferisch-ethisch integrieren. D.h.: Die schöpferisch-ethische Zusammenführung von Beständigkeit und Veränderung muß zur Wirklichkeit unseres Lebens werden. Erst auf der Grundlage dieser Zusammenführung können die Menschen die

"chinesische Mauer zwischen Vergangenheit und Zukunft" (Tr 122)

wahrhaft beseitigen.

Das Entstehen von Neuem ist eine täglich zu beobachtende Realität. Sie wirft die Frage nach der Herkunft des Neuen auf, da es eben neu und nicht eine einfach addierende Aneinanderreihung von schon Vorhandenem ist. Das Neue an sich, das dem neu Entstandenen anhaftet, entsteht aus dem Nichts heraus. Das Neue ist verbunden mit einem ursprünglich schöpferischen Akt. Und dieser Akt zeitigt in die Welt hinein seinen mehr oder weniger relativ stabilen, manifesten Ausdruck und verfällt somit unmittelbar nach seinem Hervorbrechen einem Altwerden, einem Zustand der partiellen Erstarrung. Doch dies ist notwendig, da sich die Freiheit ansonsten fortlaufend verflüchtigen würde. Der Zusammenhang von Freiheit und Notwendigkeit ist in dieser Welt unaufhebbar. Der ursprünglich schöpferische Akt ist, konsequent zu Ende gedacht, der Beginn der Welt überhaupt und aller in ihr stattfindender Prozesse. Er ermöglicht das Leben und stellt uns Menschen zugleich vor das Problem des mit der Vergänglichkeit einhergehenden Todes, der die in uns waltende schöpferische Kraft herausfordert, da wir uns niemals wirklich mit dem Tod abfinden können. Denn im Menschen brennt das Feuer des Lebens, welches von des Menschen religiös-leidenschaftlicher Tiefe her nach Ewigkeit strebt; und dieses Streben ist zunächst keine Frage des Willens, der sich auch gegen das Leben selbst in jederlei Hinsicht wenden kann, oder schon gar nicht der reinen Vernunft des Menschen, sondern es ist die Grundverfassung, das ursprünglichste sich existentiell-emotional offenbarende Geheimnis eines jeden personalen Wesens.

Das Neue entsteht aus dem Nichts heraus, da es zuvor eben nicht vorhanden war. D.h., im fortwährenden Entstehen von Neuem in der Welt offenbart sich unmittelbar die unermeßliche Potenz und unergründliche Tiefe des Nichts. Berdjajew spricht von der unergründlichen, zur Existenz im weitesten Sinne strebenden Freiheit, die als Urereignis ›von unten her‹ das Urgeheimnis der Welt und des Lebens überhaupt ausmacht. Im Menschen erreicht die Freiheit ihre konkreteste, einzigartige, aber auch exponierteste Verwirklichung. Jeder Mensch personifiziert in unverwechselbarer Weise die Freiheit in sich, um deren ganzheitliche Hinführung zur Liebe, die ebenfalls existentiell ›von oben her‹ urgegeben ist, der Mensch zu ringen hat, eine Liebe, die eben nicht von vornherein mit der Welt im weitesten Sinne vereinbar ist. Das Urmoment des existenzdialektischen Ringens findet zwischen der Freiheit und der Liebe statt und ist zum einen an eine authentische Selbsterkenntnis gebunden, die angesichts der Freiheit zum ›Guten‹ und zum ›Bösen‹ sehr beschwerlich sein kann, und erfordert zum anderen zuweilen Mut und Aufbegehren gegenüber einem die Liebe und das Leben verhindernden Anpassungszwang; und je mehr sich der Mensch von den äußeren Zwängen befreit, desto stärker gerät er in die Tragik seines inneren gemeinschaftlichen Lebens, für deren Bewältigung hin zu Augenblicken der Erfüllung in Seligkeit und Freude es keinerlei Garantie geben kann, weil dies wiederum dem Wesen der Freiheit widerspricht. Die Fülle des Lebens läßt sich nicht erzwingen, sie ist ein freies, spontanes Ereignis. Die Verwirklichung der apriorischen Freiheit im Menschen ist entgegen der bürgerlichen Freiheitsvorstellung "immer ungesichert" und ist unabdingbar an die mitunter äußerst mühsame Realisierung der Persönlichkeit geknüpft.

Die Naturwissenschaft der Moderne klebt förmlich an der Logik des Ursache-Wirkungs-Prinzips, um bloß nicht den Vorwurf, den Ruch der Unwissenschaftlichkeit auf sich zu ziehen. Man muß jedoch zugeben, daß dadurch die bodenlose Mystifikation natürlicher Vorgänge verhindert wird. Das Problem der Naturwissenschaft ist ja auch gar nicht deren empirisch und logisch ausgerichtete objektivierende Erkenntnisweise, sondern deren hartnäckiger Glaube, in objektivierender Manier dem letzten Geheimnis des Weltzusammenhangs auf die Spur kommen zu können. Auch dies ist ein unbewältigter Allmachtsanspruch, eine Überhöhung eines einseitig ausgerichteten Geistes, der dann gern in einem scheinbar umfassenden ›objektiven‹ Weltbild dingfest gemacht wird. Doch gerade die vom Wesen her überlogische existentielle Realität des im Menschen waltenden Geistes und seiner Herkunft kann von der Naturwissenschaft nicht wirklich berührt werden, sondern beispielsweise höchstens des Geistes korrelative Abläufe im Gehirn. Die Naturwissenschaft neigt dazu, die geistige Realität, das im weitesten Sinne geistige Leben der Herkunft nach auf natürliche Vorgänge zu reduzieren. Besonders skurril wirkt in dieser Hinsicht der Versuch, die existentielle Realität der Liebe auf Sexualität und Arterhaltung zu reduzieren. Aber auch bezüglich des sich in der geistigen und der belebten und unbelebten natürlichen Welt ereignenden fundamentalen Phänomens der spontanen Entstehung von neuen Qualitäten muß uns die Naturwissenschaft eine Erklärung schuldig bleiben. Das Neue, das sich notwendig auf der Grundlage des Alten erhebt und dieses nicht absolut ersetzen kann, sondern integrieren muß, ist eben neu und nicht wiederum ein mit dem Alten identisches oder aus diesem lediglich zusammengesetztes Altes. Die Entstehung des Neuen an sich ist eben eine Neuschöpfung, ein spontanes, schöpferisches und somit vom Grunde her ein übergesetzliches und überlogisches Geschehen. Ob Realität des Geistes oder überhaupt das unvermittelte Erscheinen einer gänzlich neuartigen Qualität - die Naturwissenschaft, die streng empirisch-objektivierenden und logischen Regeln folgt, erreicht hier ihre absolute Grenze. Die Wissenschaft vom Geiste kann essentiell immer nur in der Philosophie des Geistes selbst ihren vermittelnden Ausdruck finden. Dabei muß sich die Philosophie des Geistes gleichwohl naturwissenschaftlicher Methoden und Einsichten bedienen, da das ganzheitliche Leben insbesondere des Menschen eben sowohl geistige als auch natürliche Elemente beinhaltet. Genauso greift ja die Naturwissenschaft auf den Geist als reales Erkenntnis- und Motivationszentrum zurück - das aus dem Geiste hervortretende Bedürfnis, den Sinn der Welt zu ergründen und zu erkennen. Aus dem Geiste heraus kann der Mensch erkennen, daß die Welt nicht nur nicht durch und durch logisch ist, sondern darüber hinaus Momente des Unerklärlichen, des Geheimnisvollen, des Mystischen enthält. Gerade existentialistisches Denken aus der Wahrnehmung, der Erfahrung, der Realität des menschlichen Geistes heraus ist eine geeignete philosophische Methode, unter Einbezug rational-logischer Ordnungsprinzipien Rückschlüsse auf das im naturwissenschaftlichen Sinne Unerklärliche zu ziehen. So ist sich der Mensch seiner geistigen Schöpferkraft mehr oder weniger bewußt, die in die Welt eine neuartige Qualität einführen kann, die es vorher noch nicht gab. Aus dem menschlichen Schaffen heraus, das primär ein geistiges ist, kann man erkennen, wie Neues entsteht, eben nicht gänzlich aus dem Alten, sondern spontan neuartig ›von unten‹, aus dem Nichts, der unergründlichen Freiheit, heraus hin zu einem ›von oben‹ bestimmten Ziel, das allerdings auch ein fetischverhaftetes sein kann und auf diese Weise im erheblichen Maße nicht der Urmotivation nach Erfüllung wahrer Menschlichkeit, des Lebens entspringt. Real wurde das Schaffen in der bisherigen Geschichte der Menschheit meistens aus einem Gemisch wahrer und fetischverhafteter Motivationen gespeist. Daß das Neue ein Neues ist und das Moment des Nichts enthält, ergibt sich vorerst aus der Logik des Denkens und ist keine existentielle Erfahrung. Aber im Schaffen von Neuem können wir unsere existentielle Freiheit, den Akt der Spontaneität unserer schöpferischen Eingabe, den Akt unserer schöpferischen Kräfte bewußt wahrnehmen, fühlen, erkennen im überlogischen Sinne. Auf diese Weise, im realen existentiell-geistigen Vollzug, läßt sich das sowohl in der geistigen als auch in der natürlichen Welt ereignende fundamentale Phänomen der Entstehung von neuen Qualitäten als spontaner Akt der Freiheit über die logische Bestimmung hinaus verifizieren. Die naturwissenschaftliche objektivierende Empirie vermag dies nicht, sie kann nur das Neue feststellen, aber den Akt seiner Schöpfung selber mit ihren logischen Mitteln nicht nachvollziehen und erklären. Die existentiellen Erfahrungen dagegen können durch sprachliche Metapher und Allegorien symbolisch ausgedrückt und, darauf aufbauend, philosophisch umfassend verarbeitet werden. Dennoch, der ursprüngliche Akt der Freiheit aus dem unergründlichen potenzgeladenen Nichts (›Ungrund‹ bei Jakob Böhme) heraus ist in der natürlichen Welt ein anderer als in der existentiell-geistigen. Der schöpferische Akt des Menschen ist ein bewußt-persönlicher, der in der im geistigen Sinne unbelebten natürlichen Welt ein unbewußt-unpersönlicher. Und für uns Menschen wird es niemals direkt bewußt nachvollziehbar sein, wie sich der schöpferische Akt in der unbewußten Natur über die natürlichen Gesetze hinaus in unpersönlicher Weise vollzieht, wie die Richtung des Aktes bestimmt wird, die schließlich unter günstigen Bedingungen zum Erscheinen des menschlichen Wesens führte. Uns bleibt nichts weiter übrig, als einen unbewußt wirkenden Logos in der Welt spekulativ anzunehmen, der unserem schöpferisch-bewußten Geist korrespondiert und in uns schließlich eine neue personal-ganzheitliche, d.h. lebendige Dimension erlangt, erlangen kann, aber nicht in einem alles beherrschenden, sondern in einem die Gewalt ausschließenden schöpferisch-liebenden Sinne. Der Begriff ›Logos‹ beinhaltet sowohl die logische als auch die alogische, überlogische Ausrichtung der Welt. Bei Hegel verkam dieser Begriff der Bedeutung nach zu einer auch den Menschen unpersönlich durchherrschenden Weltvernunft, die sich listig allgemeine Geltung verschafft. Doch anders als bei Hegel kann man sagen, daß der Logos über sein logisches Element hinaus wesentlich das zur geistigen Freiheit hinwirkende überlogische Sinn-Element der Welt ist, daß der Logos erst im freien Geist der gemeinschaftsstiftenden Persönlichkeit, in der Wahrheit und Fülle des Lebens verwirklicht werden kann.

Wir können sagen, daß es einen Logos gibt, genausogut können wir diese Spekulation ablehnen. Aber auch die Ablehnung kann nur Spekulation sein und kein Beweis für das Nichtvorhandensein eines überlogisch wirkenden Sinn-Elements in der geistig unbelebten Natur. Wenn man mir klar aufzeigte, daß die spekulative Annahme eines Logos mit der Bestimmung des Menschen zur wahren Menschlichkeit unvereinbar sei, würde ich diese Annahme sofort fallen lassen. Zweifel an Spekulationen und deren Korrekturen müssen immer wieder geleistet werden. Seit geraumer Zeit jedoch bekenne ich mich immer wieder auch zum Glauben an einen unbewußt wirkenden Logos, den der Mensch mit der Realisierung seiner Persönlichkeit konkret und individuell einzigartig als seinen göttlichen, ihn ursächlich motivierenden Wesensgrund erlebt, der vor allem auf den universalen ›Prinzipien‹ der Liebe, Freiheit und Wahrheit basiert; zumal die Welt ohne die Annahme solch eines Logos unverständlich bliebe bzw. nur bruchstückhaft erkannt werden könnte. Es ist der Sinn, der lebendige Logos in uns, der sich aus unserer nicht ruhenden Sinnbedürftigkeit heraus in der Tiefe unserer Seele offenbart. Die Sehnsucht nach einem sinnerfüllten Leben erhebt sich aus der Wahrheits-, Freiheits- und Liebesfähigkeit der Persönlichkeit. Der Mensch der Moderne flieht jedoch diese Fähigkeit, weil sie ihm eine leidens- und mühevolle Selbsterkenntnis abverlangt, die mit einem fetischorientierten Leben unvereinbar ist. Lieber klammern sich die modernen Menschen mehr oder weniger verzweifelt an die vermeintliche Obhut einer Fetischabhängigkeit und hoffen, daß dabei noch ein bißchen Freiraum für ihre Liebe abfällt, die sie dann gesondert, illusionsbeladen und oft pervertierend etc. zu verwirklichen suchen.

Die primär existentiellen schöpferisch-ethischen Potenzen des Menschen machen es möglich, daß sekundäre äußerlich-gegenständliche "Potenzen", die entsprechend Kurz' Begriffsbestimmung zu den

"Artefakten der Geschichte im weitesten Sinne" (131 Tr)

zu zählen sind, vom Fetischkontext, in dem sie stehen, befreit werden können. Auch diese "Artefakte" werden verändert: Einem im weitesten Sinne notwendigen beständigen Inhalt des jeweiligen. "Artefakts" können neue hinzugefügt werden bzw. der bisherige Inhalt des "Artefakts" wird zu einem Inhalt neuer Qualität transformiert. Die "Eigenqualität der Inhalte" kann schöpferisch-ethisch vom Menschen umgewandelt und erweitert werden, der die "Inhalte" auf diese Weise in einen authentischen universal-ideellen und nicht in einen unauthentischen allgemein-abstrakten Wertzusammenhang stellt.

Auch die geistige "Potenz" der

"Distanzfähigkeit" (131 Tr)

ist abhängig von der inneren Verfassung des Menschen, inwieweit er noch im Bann der Fetischorientierung steht oder sich von dieser weitgehend befreien konnte. Das schöpferisch-freie Schaffen und das Wechselspiel von Distanz und Nähe sind eng mit dem Erwachen der Persönlichkeit verbunden. Die Persönlichkeit des Menschen war in der sogenannten Vorgeschichte, in der der Mensch der Natur noch im starken Maße verhaftet und schicksalhaft ausgeliefert war, schwächer ausgebildet. Der Glaube an die Geister der Natur stand einer tiefgründigen inneren Befreiung im Wege. Der Ur- bzw.

"steinzeitliche" (132 Tr)

Mensch tat sich noch schwer, Distanz zur Natur zu entwickeln und zuzulassen, um von einer mehr magischen Nähe in eine mehr praktisch-vernunftgeleitete, wenn auch zunächst noch mythisch, mythisch-rational bestimmt, wechseln zu können. Die ökonomischen Voraussetzungen ließen eine notwendige Eindämmung der schicksalhaften Abhängigkeit von der Natur vorerst nicht zu. Robert Kurz hat jedoch Recht, wenn er sagt, daß man deshalb nicht von

"einer schlechthinnigen 'Distanzlosigkeit' aller vormodernen Gesellschaft" sowie von "ihrer schlechthinnigen 'Individualitätslosigkeit'..." (132 Tr)

sprechen kann, um schließlich damit

"die spezifische Barbarei und Borniertheit der modernen Subjektform irgendwie als 'Fortschritt' rechtfertigen zu können". (132 Tr)

Das wäre dann

"pure bürgerlich-aufklärerische Ideologie, die alle Menschheit vor dem 18. Jahrhundert in der unterschiedslosen Dämmerung der 'Naturverhaftetheit' vegetieren sieht". (132 Tr)

Archäologische Funde aus urgeschichtlichen Zeiten zeigen, daß das Leben der Menschen damals einen stark religiös-emotionalen Charakter trug und mit einer tiefen, wenn auch magischen Naturverbundenheit einherging. Selbst diese magische, aber immer noch natürliche Verbundenheit besaß einen weitaus größeren Wahrheitsgehalt als jede äußerlich-devotionale Fetisch-Fixierung auf von Menschen geschaffene Dinge und Prozesse, in die der moderne Mensch einseitig seine Bedeutung projiziert, an welche er seine ursprünglichen religiösen Emotionen, Leidenschaften und Liebesgefühle ersatzweise und diese dabei zunehmend pervertierend anzulehnen versucht und anlehnt, was wesentlich zur Erhaltung der Fetischverhältnisse beiträgt. Der Mensch hat seine magische Verbundenheit zur Natur über Zwischenstufen durch eine grundsätzlich von ihm miterschaffene magische und unnatürliche Fetisch-Fixierung ersetzt. Der Moderne schließlich geht das Geheimnis des Lebens allmählich verloren; es wird mehr und mehr ein flaches, verlogenes und in Wahrheit ungeliebtes Leben.

Die Moderne ist tatsächlich durch eine besonders "bornierte" Fetischabhängigkeit gekennzeichnet, die im Gegensatz z.B. zu den urgeschichtlichen Verhältnissen dazu tendiert, den Menschen an die Oberfläche des Lebens zu katapultieren, wodurch der Mensch in eine regelrechte Objektivierungswut gerät. Kant und der objektive Idealismus haben dies sicherlich befördert, aber es ist die Moderne selbst, die schließlich die für sie genehmen Schlüsse auch aus der kantischen und der objektiv-idealistischen Philosophie gezogen hat, einer Philosophie, die insgesamt weit mehr als nur eine einfache Aufklärung war, was Vorurteile und Verirrungen nicht ausschließt. Auch Kant und z.B. Hegel waren Menschen und konnten nicht in Systemen bzw. "Formzuständen... aufgehen". Und es wäre meines Erachtens nicht gerecht, wenn man sagen würde, daß von diesem "Nicht-Aufgehen" in ihren Philosophien überhaupt nichts zu merken ist. Dem widerspricht auch die komplexe Wirkung, die diese Philosophen ausgeübt haben - siehe auch Berdjajew.

Wie gesagt, das Wechselspiel von Distanz und Nähe zwischen den Menschen ist eng mit dem Erwachen der Persönlichkeit verbunden. An das Persönlichkeitserwachen knüpft sich eine gesteigerte bewußte Wahrnehmung der individuellen Einzigartigkeit und Ganzheitlichkeit, der schöpferischen Kräfte, der Freiheit und der Fülle des Lebens, aber auch der Gefahren, der Ängste, des Todes. Das Persönlichkeitserwachen geht einher mit der Herausbildung von Gaben und Talenten, mit der Erweiterung der innermenschlichen Qualität (Sinn) etc. Eine besondere Gabe des Menschen ist seine Fähigkeit zur Distanz und Nähe. Der Mensch als Persönlichkeit meidet die einverleibende Nähe anderer Menschen, geht auf Distanz, um sich schöpferisch den anderen Menschen nähern, um Vertrauen gewinnen zu können. Dieser Prozeß ist mit Liebe und Freiheit verbunden, kann aber auch im Haß enden, wenn sich in den Beziehungsprozeß niedere destruktive Momente wie Gewalt- und Machtbestrebungen, Ressentiments unterschiedlichster Art mischen, von welcher Seite auch immer, und diese destruktiven Momente nicht schöpferisch bewältigt werden können. Das Wechselspiel von Distanz und Nähe hat im Menschen, da grundlegend basierend auf Liebe und Freiheit, einen ursprünglich religiösen Zug. Das Wechselspiel Distanz und Nähe kann man auch schon bei hochentwickelten Tieren beobachten. Unbewußt tritt dies auch in der Natur auf. Doch dies gehört eben der natürlichen und nicht der geistigen Dimension an. ›Distanzfähigkeit‹ an sich ist somit eine über den sozialen und kulturellen Zusammenhang hinausreichende persönlichkeitsbildende geistige Fähigkeit des Menschen. Und ich spreche hier von der ›Distanzfähigkeit‹ als eines schöpferischen Aktes, die der konkreten Beziehungsfähigkeit des jeweiligen Menschen dient. Heutzutage läßt sich jedoch genau das Gegenteil einer beziehungs- und persönlichkeitsfördernden ›Distanzfähigkeit‹ beobachten. Man kann sagen, daß die Menschen der Moderne in besonderer Weise dazu neigen, geschuldet dem allgemein um sich greifenden Objektivierungswahn, in ein persönlichkeitsauflösendes autistisches Dilemma zu fallen, welches die Welt in dieser Art bisher noch nicht gekannt hat. Robert Kurz stellt hinsichtlich

"der kannibalischen Figur des Hannibal Lecter" (132 Tr),

fest:

"Die 'Distanzfähigkeit' wird hier zum unüberbrückbaren Abgrund. Es ist einerseits jene Distanz, die Prokrustes seinen Mitmenschen gegenüber einnimmt, und es ist andererseits die Distanz zur gesamten Welt und allen Dingen, an der Tantalus leidet. In letzter Instanz erweist sich das männlich-abspaltungslogische Wertsubjekt als vollkommen beziehungsunfähig. Die Absolutheit der Distanz schlägt allerdings in eine ebenso absolute Distanzlosigkeit um, in eine autistisch bedingte Aufdringlichkeit, die den Gegenstand der unmöglich gewordenen Zuneigung schließlich buchstäblich in der Pfanne landen läßt. Die Unmöglichkeit, den Gegenstand oder die Person als andere mit eigener Qualität gelten zu lassen, macht die unmittelbare Einverleibung zur ultima ratio." (133 Tr)

Als reale Beispiele der "Einverleibung" verweist Kurz im Kapitel "Hannibal Lecter oder die "Potenz" der Distanzfähigkeit" (S. 129 ff, Tr) auf den "Kannibalen von Rotenburg", auf "(die) vielen tausend Angebote auf den Tummelplätzen des Web..., wenn es darum geht, Menschen zu foltern und aufzufressen", auf "Adolf Eichmann oder" den "inzwischen hingerichteten Oklahoma-Attentäter Timothy McVeigh".

Jedoch nur überspitzt läßt sich von einem "unüberbrückbaren Abgrund" sprechen, zu der eine destruktiv orientierte "Distanzfähigkeit" führen kann, zumal einerseits "das männlich-abspaltungslogische Wertsubjekt" nur ein anerzogener Aspekt des Menschen ist und nicht den ganzen, geschweige denn das Wesen des Menschen ausmacht und andererseits jenes "Wertsubjekt" an sich keine ›Distanzfähigkeit‹ kreieren kann, sondern diese nur destruktiv, "nach Prokrustes-Manier", einschränkt. Kurz' Feststellungen relativierend, würde ich deshalb sagen: ›Die extreme Zunahme der Distanz kann spontan in eine extrem ausgeübte Distanzlosigkeit umschlagen.‹ Und dies kann sich sehr wohl unter anderem bis zu dem angeführten Extrem des "Kannibalen von Rotenburg" ausweiten. Doch die "Absolutheit der Distanz" würde den einzelnen Menschen gänzlich lebensunfähig machen; er wüßte überhaupt nicht mehr, was um ihn herum ist und geschieht, worum es ihm und worum es den anderen geht oder worum nicht etc. Selbst der "Kannibale von Rotenburg", "Armin M.", wäre in keiner Weise tätig geworden, hätte er das Wechselspiel von Distanz und Nähe nicht beherrscht, wenn auch in äußerst perfider Weise, und es unterordnend in seine Bestrebungen eingebunden. Und Herr M. suchte dabei nicht nach wirklicher Nähe, nach Liebe, es ging ihm nicht um den ganzheitlichen geistigen Wert der Persönlichkeit. Ganz im Gegenteil, mit seiner kannibalischen Tat wollte er zumindest insgeheim auch den geistig-ethischen Anspruch erniedrigen und letztlich vernichten. Analog verhalten sich die neonazistisch orientierten Menschen: Sie wollen keine ›sentimentalen‹ mitleidigen Gefühle für die in ihren Augen ›hassenswerten Feinde‹ aufkommen lassen. Manchen von ihnen fällt dies jedoch auf Dauer so schwer, daß sie gelegentlich sogar umdenken - auch das kommt vor. Andere beginnen sich selbst zu hassen, weil sie Mitleid für einen erniedrigten, leidenden Menschen empfinden, oder sie hassen denjenigen/diejenige der/die Mitleid in ihnen hervorruft, welches sie nicht ertragen können und wollen. Gern wird in einer Welt der mitleidlosen ›Stärke‹ das von echtem Mitleid und Mitgefühl getragene und gerade deshalb widerständige Handeln des Menschen als ›Ausdruck von Schwäche‹ denunziert. Die Realisierung der Persönlichkeit wird als Gefahr erachtet in einer Welt, die auf erbarmungslose ›Stärke‹ und abgeklärte Rücksichtslosigkeit als Mittel für niedere Zwecke aller Art setzt. Für diese fetischorientierte Welt wird die Persönlichkeit zum Feind und muß in einem selbst bekämpft werden, kompensatorisch durch sadistische Handlungen an willfährigen Opfern oder durch masochistische oder mechanische Anpassung an eine höhere bzw. Unterwürfigkeit gegenüber einer höheren Macht welcher Art auch immer etc. Der konkret ausgeübte

"Kannibalismus und Autokannibalismus" (136 Tr)

kann zur Sucht werden, indem diese Handlungen dem Süchtigen das Gefühl vermitteln, Herrscher, Gott im allmächtig destruktiv-gewalttätigen, rücksichtslos-nichtliebenden Sinne zu sein. Das schöpferisch-geistige Prinzip der Persönlichkeit wird dabei mehr oder weniger bewußt und willentlich verraten und abgewehrt. Der "Kannibale von Rotenburg" hatte sich ein willfähriges Opfer gesucht, an dem er stellvertretend auch sein eigenes ungeliebtes Leben, sein ungeliebtes pervertiertes Selbst, lustvoll und höchstwahrscheinlich sogar genußvoll vernichten konnte. Dafür jedoch benötigte er die Fähigkeit zur Distanz und Nähe und ein damit einhergehendes Einfühlungsvermögen, um die grausamen masochistischen Qualen oder Lustempfindungen seines Opfers sadistisch oder wie auch immer exzessiv-pervers nachvollziehen zu können.

Grundlegend sei bemerkt, daß die Liebe insbesondere zu einem anderen Menschen ein Ereignis ist, welches die herkömmliche gewohnte Lebenswelt des von seiner konkreten Liebe überwältigten Menschen massiv in Frage stellen und ihn so in seiner ganzen Existenz tief erschüttern kann; letzteres kann zuweilen als ein schwerer Angriff auf die eigene Person empfunden werden. D.h., die Liebe wird zu einer unerträglichen Last, wenn das Leben bislang hauptsächlich von Illusionen, Vorurteilen etc. bestimmt wurde und analog nach irgendwelchen starren Ordnungsprinzipien verlief und man nicht den nötigen Mut hat und nicht fähig ist, genügend schöpferische Freiheit aufzubringen, um die jeweiligen Illusionen, Vorurteile und starren Prinzipien zu beseitigen. Ohne tiefgreifende und anhaltende schöpferische Freiheit keine Erfüllung der Liebe. Liebe und Freiheit können nicht ›vorschriftsmäßig‹ reguliert werden, sind unvereinbar mit den anerzogenen Etiketten, mit all dem ausufernden Schwindel, an den die Menschen kompensatorisch und sich selbst betrügend ihr Herz gehängt haben. Der Weg und die Wahrheit der Liebe und Freiheit bringen das angepaßte Selbstbild in Gefahr. Insbesondere durch die konkrete Liebe zu einem anderen Menschen kann die Gefahr, die von der Liebe ausgeht, am nachhaltigsten wirken. Aber dies muß nicht so sein. Genausogut kann ein Mensch seine konkrete Liebe von seinem angepaßten Dasein, seiner sonstigen Selbsterniedrigung oder Selbstüberhöhung abtrennen, gesondert leben, obwohl schon der Riß durch das eigene Leben zumindest stille, heimliche Leidensmomente hervorrufen muß, da dieser Riß mit der ganzheitlichen Grundwahrnehmung bzw. Grundmotivation des Menschen nicht vereinbar ist. Wesensbedingt drängt die kapitalistische Moderne den Menschen in eine besonders stark ausgeprägte schizophrene Bewußtseinsverfassung. Die Liebe wird isoliert, in ihrem Wirken eingeschränkt, verfälscht und vergeht mit der Zeit, scheitert.

Die Liebe ist ein großes Problem für den im starken Maße unter der narzißtischen Form des Autismus leidenden Menschen. Dieser Mensch widerstrebt der zugewandten transzendierenden Liebe, nicht, weil er so nicht lieben könnte, sondern weil er sich vor der echten Liebe wie vor der existentiellen Nähe, die mit dieser Liebe einhergeht, fürchtet. Er fürchtet sich vor der Infragestellung seines überhöhten objektivierten Selbstbildes. Die immer wieder auftretenden und endlos erscheinenden Depressionen und Selbstzweifel eines selbstsüchtigen bzw. selbstbezogenen Menschen sind der nach Liebe verzehrenden Intuition geschuldet, die sich nicht erfüllt, aber dennoch im existentiellen Hintergrund, in der existentiellen Tiefe sehnsüchtig schlummert und qualvoll zu spüren ist. Ein ›Narzißt‹, der diese Liebesintuition nicht in sich trüge, würde nie an seinem vereinsamten Ego leiden. Selbst die Einsamkeit eines ausgeprägt narzißtisch orientierten Menschen ist daher niemals absolut. Der narzißtisch orientierte Mensch fühlt Sicherheit im System, in der Einteilung und Einordnung seiner objektivierten ›Beziehungen‹ zu den Menschen. Er haßt die Infragestellung des Sicherheit suggerierenden Systems, welches ihm die offene persönliche Beziehung zu einem anderen Menschen abverlangen würde. Er entwickelt Haß gegenüber den Menschen, die seiner Selbstdarstellung nicht hofieren. Im Extremfall haßt er die Menschen überhaupt. Kein Mensch kommt gänzlich ohne persönliche Beziehungen aus. Der narzißtisch orientierte Mensch verwirklicht diese partiell immer dort, wo sein überhöhtes Selbstbild am wenigsten in Frage gestellt wird. Doch so bleibt ihm die wirkliche Erfüllung der Liebe versperrt, da die Erfüllung der Liebe an eine authentische und umfassende Selbsterkenntnis gebunden ist. Ein anderer Weg wäre, sich der im Kern unstillbaren, aber nicht ohne weiteres erfüllbaren Liebe möglichst zu entledigen, indem man sich an einer gehorsamkeitsfordernden rein ›praktischen Vernunft‹ orientiert, von der aus die Liebe als ein die ›Realitätswahrnehmung‹ eintrübendes, minderwertiges, unterlegenes und lächerlich wirkendes Gefühl betrachtet wird. Auf diese Weise treibt sich der Mensch seine Liebe, d.h. seine unmittelbare Würde systematisch aus. Die Liebe zu und das Mitleid mit Tieren wird dadurch oft zum letzten Refugium des liebes- und mitleidsbedürftigen Menschen. Das Tier kann den Menschen geistig nicht in Frage stellen und bedeutet von daher keinerlei Gefahr. Und gerade dies ermöglichte es den Nationalsozialisten auf der einen Seite, mit der Einführung eines neuen Tierschutzgesetzes sich selbst ein gutes Gefühl zu vermitteln, während auf der anderen Seite der in ihnen durch persönlichkeitsmißachtende und -zerstörende Verhältnisse angestaute Haß außer Kontrolle geriet und folgerichtig den Menschen selber traf. Es traf vor allem diejenigen Menschen, die aus welchen Gründen auch immer nicht ins überhöhte, von vielen Ressentiments und anderen niederen Beweggründen durchsetzte Selbstbild paßten oder dieses störten oder gar dagegen rebellierten etc.

Man muß also zwischen einer schöpferischen ›Distanzfähigkeit‹ und einer destruktiv ausgerichteten "Distanzfähigkeit" unterscheiden. Erstere ist eine Fähigkeit der Persönlichkeit, letztere eine aus der Abneigung gegenüber echter innerer Nähe zu anderen Menschen entstehende Unfähigkeit, die Wahrheit der eigenen Person schöpferisch-ethisch zu verwirklichen, d.h. die eigene Persönlichkeit zu realisieren. Der extreme Gewohnheitsautist empfindet die existentielle Nähe zu anderen Menschen als einen Angriff auf seine vermeintliche Integrität und will den Weg wahrer Selbsterkenntnis nicht gehen, nicht zulassen, da sich dieser Weg als äußerst steinig erweisen kann angesichts angesammelter und kaum noch zu bewältigender zerstörerischer Schattenemotionen und Schattenimpulse, deren Ausleben ihm ein perverses, wenn auch zumeist geheimes Bedürfnis ist. Und dennoch besitzt auch der extreme Gewohnheitsautist im Kern seiner Existenz eine Persönlichkeit, deren intuitive Fähigkeiten er mißbraucht und gegen sie wendet, um die gefürchtete existentielle Wahrheit, die mit Nähe und echter Gemeinschaft verbunden ist, kleinhalten und seiner Destruktivität freien Lauf lassen zu können. Die Abwehr und Schwächung und partielle Zersetzung der Persönlichkeit feiert unter den Bedingungen des Kapitalismus Konjunktur. Spitzt sich der Widerspruch des Kapitalismus zu und Kompensationsmöglichkeiten und Illusionen fallen nach und nach weg, verliert auch die autistische Abwehr an Kraft. Dann jedoch beginnt erst der wirklich schwierige Weg in Anbetracht des gesteigerten inneren Chaos der Menschen. Es gibt keine Garantie, daß nach einem Zusammenbruchsszenario die Welt automatisch besser wird, der Mensch sich sogleich freudig und schöpferisch-frei auf seine Persönlichkeit besinnt. Echte Besinnung fördert darüber hinaus zunächst viele unbequeme Wahrheiten zutage, die vom schwer loszuwerdenden Gewohnten her wiederum massive innere Abwehr erzeugen kann. Sich zur eigenen Persönlichkeit zu bekennen, das erfordert widerständige geistige Kraft gegen eine überall lauernde und im Leben der Menschheit niemals gänzlich zu vermeidende Gefahr der inneren und äußeren Fremdbestimmung, die insbesondere als äußere (z.B. als allgemein übergeordneter Staat) scheinbar die Verantwortung für das Leben übernehmen kann und den Menschen so Sicherheit suggeriert. Dagegen bedeutet Realisierung der Persönlichkeit schöpferische Freiheit, die mit einer schwer zu meisternden Offenheit des Lebens verbunden ist, eines Lebens, für das die Menschen dann wahrhaft selbst verantwortlich sind, wovor sie sich jedoch bisher immer gefürchtet haben wie vor der Gefahr der schöpferisch-geistigen Freiheit. Der aus einem pervertierten Geborgenheits- und Heimatbedürfnis hervorgehende übersteigerte Sicherheitsdrang führt, vor allem in der gutbürgerlichen Moderne, zu einer verdrängenden und fetischorientierten Geisteshaltung, die die ganzheitlich-schöpferische Freiheit des Menschen einschränkt und verhindert.

Man sollte annehmen, daß Kurz mit der Feststellung, daß sich in

"letzter Instanz... das männlich-abspaltungslogische Wertsubjekt als vollkommen beziehungsunfähig (erweist)" (133 Tr),

nicht automatisch den ganzen fetischorientierten Menschen für "vollkommen beziehungsunfähig" erklärt. Außerdem stellt Kurz eine Seite zuvor fest:

"Wie die Individualität steht allerdings auch die Distanzfähigkeit in ausnahmslos allen bisherigen Fetischverhältnissen unter dem Bann einer zwanghaften gesellschaftlichen Form. Dieser Bann ist in der modernen Subjektform nicht geringer geworden, sondern hat sich vielmehr unerträglich gesteigert. Es geht also gerade darum, die Individualität wie die Distanzfähigkeit von der Subjektform und damit von einer bannenden Fetischform überhaupt zu befreien. Das ist so ziemlich das Gegenteil der Option, ausgerechnet der Subjekt-Fetischform selbst eine zu 'rettende' spezifische Distanzfähigkeit als positive Errungenschaft zusprechen zu wollen." (132 Tr)

Daß die "Individualität... unter dem Bann einer zwanghaften gesellschaftlichen Form (steht)" bedeutet, daß die "Individualität" nicht im "männlich-abspaltungslogischen Wertsubjekt" aufgeht. So gesehen wäre nur das "Wertsubjekt" der "Individualität" "vollkommen beziehungsunfähig". Dies gilt jedoch nur, wenn der Begriff "Individualität" synonym für Persönlichkeit verwendet werden würde. Doch auf die Persönlichkeit des Menschen als eine im universal-existentiell-geistigen Sinne apriorische Vorraussetzung des gemeinschaftlichen Lebens nimmt Kurz im Zusammenhang der hier besprochenen Essays und innerhalb seiner Subjektkritik überhaupt keinen Bezug. Vielmehr fordert er quasi mit der "Aufhebung des Subjekts" zugleich die Aufhebung der ganzheitlich-apriorischen Persönlichkeit, denn die Persönlichkeit ist des Menschen subjektiv-geistige Wesenseigenschaft. Für Kurz gibt es neben dem allgemeinen zwangausübenden "männlich-abspaltungslogischen Wertsubjekt" kein tieferes authentisch-freies Subjekt. Eine befreite "Individualität" wäre demnach eine subjektlose Erscheinung, die als solche, in geistiger Hinsicht, alles oder nichts sein kann, bloß nichts konkret Individuelles, da "negatorisch" absolut unbestimmbar - also sinnlos. Insofern muß laut Kurz' Theorie die "Individualität" vollständig "unter dem Bann einer zwanghaften gesellschaftlichen Form" stehen. Eine vom Grunde her subjektlose "Individualität" hat nichts, was in einer "Subjekt-Fetischform" nicht aufgehen könnte. Letztlich und genauer betrachtet, steht somit diese "Individualität" entgegen Kurz' Feststellung gar nicht "unter dem Bann einer zwanghaften gesellschaftlichen Form", sondern ist mit dieser "Form" notgedrungen identisch. Und die Beantwortung der Frage, wohin eine Befreiung dieser "Individualität" führen würde, muß uns Kurz logischer Weise absolut schuldig bleiben. Dazu verweist er ausweichend auf einen

"schwierigen Prozeß der praktischen Transformation" (141 Tr),

ohne plausibel zu machen, wie das ohne geistig-apriorische Grundannahmen überhaupt funktionieren soll. Doch laut Kurz müssen auch diese Grundannahmen "jenseits der Fetischverhältnisse" grundsätzlich verschwinden. Wenn Kurz also von der Beziehungsunfähigkeit des "männlich-abspaltungslogischen Wertsubjekt" spricht, muß er gemäß seiner bisherigen Theorie diese Beziehungsunfähigkeit automatisch auch auf den ganzen fetischorientierten Menschen übertragen. Jedoch insgesamt und praktisch hält sich Kurz glücklicherweise überhaupt nicht an seine eigene Subjekttheorie, indem er aus seinem apriorisch-geistigen Hintergrund heraus und diesen aktiv zulassend in vielerlei Hinsicht und zum Teil äußerst überzeugend, provokativ-anregend und gekonnt (siehe insbesondere auch "Schwarzbuch Kapitalismus", "Weltordnungskrieg", "Die Antideutsche Ideologie") den radikal-kritischen Finger auf die himmelschreienden, aber nicht immer leicht zu erkennenden Wunden der Moderne legt. Und mit der folgenden Aussage widerspricht er sogar direkt seiner eigenen ›radikalen Subjektkritik‹:

"Aber es lässt sich durchaus ein immanenter Ausgangspunkt und ein Weg der Kritik und Transformation aufzeigen. Dass die Individuen nicht in der Fetischform aufgehen 'wie die Ameisen im Ameisenhaufen' (Anselm Jappe) äußert sich, und zwar eben als Leid [Hervorhebung - D.H.]. Nicht zuletzt ist es ein ständiges Leiden am Geschlechterverhältnis der Abspaltung, das auf Beziehungsunfähigkeit hinausläuft. Das Leiden ist der konkrete Ausgangspunkt. Die Verarbeitung dieses Erfahrungsgehalts kann einen zunächst virtuellen Standpunkt 'außerhalb' konstituieren: nämlich die kritische Reflexion der eigenen geschlechtlichen und gesellschaftlichen Beziehungsverhältnisse." (140 Tr)

Wie ich weiter oben schon erläuterte: "Das Leiden ist kein Wesen." (128 Tr) Das stimmt, denn außerhalb der personalen Ganzheitlichkeit existiert es nicht. Es ist der Mensch, der leidet und nicht das Leiden selbst. Das Leiden existiert im Verbund mit dem ganzen Menschen, ist ein Wesenszug seines Persönlichkeitssubjekts. Der Mensch leidet bewußt, d.h., wenn er leidet, ist daran unmittelbar, d.h. ganzheitlich, schon eine "kritische Reflexion" gebunden, auch wenn diese die Leidensursache noch nicht im ganzen Umfang erkennen kann, weil dazu eben auch ein Mindestmaß an Zeit erforderlich ist, die sich in einem Geschichtsprozeß niederschlägt.

Ich spreche hier vom primär authentischen Leiden und nicht vom sekundär kompensatorischen Leiden, welches sich gewiß, Kurz in diesem Aspekt zustimmend,

"in praktischer Hinsicht als Ausleben der Abspaltung im Alltag" zeigen kann; "auf dem Feld der Theorie als jenes Philosophenkönigtum, das sich nicht allein als Haltung manifestiert, sondern sich im theoretischen Modus selbst objektiviert hat". (141/142 Tr)

Dennoch hat auch die leidende Hingabe des "Wertsubjekts" ihre Grenzen, immer dann, wenn jegliche kompensatorische Belohnung ausbleibt, ihren Dienst versagt, die auch schon als bloße autosuggestive Belohnung funktionieren kann, z.B. durch das erhebende Gefühl der unbeugsamen ›Treue zum Führer‹ oder des

"Bewusstsein der vermeintlichen Überlegenheit" (142 Tr).

Das Kurz das Leiden als einen "konkreten Ausgangspunkt... der Kritik" zuläßt, ist ein Hinweis darauf, daß eine "negatorische" Methode allein die Kritik nicht leisten kann. Und was sollte das Leiden auch anderes sein als ein persönlich-subjektives Grundgefühl, das allerdings schon in sich eine schöpferisch-ganzheitliche Wertung einbindet, d.h., alle Momente der Persönlichkeit, die Ratio eingeschlossen, zumindest ansatzweise mitumfaßt. Der "Erfahrungsgehalt" des Leidens "konstituiert" nicht erst nachträglich "einen zunächst virtuellen Standpunkt 'außerhalb'...", sondern ist mit diesem und zugleich sogar schon mit einer grundlegenden Reflexion eben unmittelbar über die personal-ganzheitliche Existenz des Menschen verbunden. Auf der einen Seite muß die Umsetzung von Kurz' Forderung nach der "Aufhebung des Subjekts" logisch eine gänzlich leere "Individualität" hinterlassen, jedoch kann diese keinen Widerstand mehr leisten. Auf der anderen Seite erkennt Kurz quasi einen konkreten existentiell-apriorischen "Ausgangspunkt", und zwar das individuelle Leiden, an. Der Widerstand der "Individualität" findet im Leiden seinen ursprünglichen geistigen Halt - geistig deshalb, weil das Leiden nicht nur ein einfaches, geistloses Gefühl ist, sondern das Leidensgefühl an sich schon immer als ein geistiger Prozeß erlebt wird; es ist ein Leiden der ganzen Person, im Kern ein Leiden um die Persönlichkeit, die sich dem Angriff auf ihre authentische Integrität erwehrt. Genauso verhält es sich mit dem personalen Leiden der Tiere. Der Widerspruch zwischen beiden Seiten, der Forderung nach der "Aufhebung des Subjekts" und dem Leiden als "Ausgangspunkt... der Kritik", ist unauflösbar. Und Kurz bemüht sich auch gar nicht um die Auflösung des Widerspruchs, sondern argumentiert immer so, wie es für seine Theorie gerade günstig ist: Zuerst leiden wir, dann "konstituieren" wir "außerhalb" einen "virtuellen Standpunkt". Leiden und "virtueller Standpunkt" sind ohne das Vorhandensein eines ganzheitlich-apriorischen personal-geistigen Subjekts stets absolut voneinander getrennt:

" 'Virtuell' in diesem Sinne ist Kritik ihrem Wesen nach, denn es ist ja die erst einmal gedankliche Negation [Hervorhebung - D.H.] eines realen, noch unüberwundenen Verhältnisses."

"Der virtuelle Standpunkt der Kritik... ermöglicht, auf dem relativ eigenständigen Feld der Theorie [Hervorhebung - D.H.] bereits die Logik der Kritik an der Subjektform ganz grundsätzlich zu entfalten." (141 Tr)

Das existentielle Leiden wird von Kurz anerkannt, aber abgetrennt, und gottesgleich im durchaus herrschaftlichen Sinne erhebt sich über das Leiden eine ›kritische Theorie‹ (vergleiche auch das Zitat 210/211 SH und meine daran anschließende Entgegnung im 1. Teil dieser Auseinandersetzung).

Sinn macht die "Individualität" des Menschen nur dann, wenn sie im Kern durch des Menschen Persönlichkeit getragen wird, die unter anderem eine schöpferische ›Distanzfähigkeit‹ umfaßt, welche wiederum durch den "Bann... der modernen Subjektform" in destruktiver Weise pervertiert und eingeschränkt werden kann. Für Kurz dagegen ist "Individualität" bezogen auch auf den Menschen offensichtlich und ausschließlich nur ein

"gesellschaftliches Wesen". (183 SH)

Die Befreiung dieser "Individualität" gipfelt in einer von Kurz so benannten

"gesellschaftlichen Selbst-Bewußtheit" (210 SH),

wobei das "Selbst" hier scheinbar irgendwie, auf wundersame Weise, gesellschaftlich entsteht und eben nicht vom konkret-universalen apriorischen Persönlichkeitskern her. Authentische Unbestechlichkeit des Menschen ist so unmöglich. Der einzelne Mensch ist, Kurz' Theorie logisch folgend, schließlich nur ein ausführender Teil von etwas größerem ›Ganzen‹. Das hieraus entstehende Menschenbild wurde bisher jeder sozialen Bewegung immer wieder zum Verhängnis und ist mit dem monistisch vereinheitlichenden System des objektiven Idealismus durchaus kompatibel - der Mensch als Medium des ›absoluten‹ Geistes, des Weltgeistes. Ein unbeirrtes Vorgehen im Sinne einer

"Logik der Negation" (137 Tr)

ist angebracht, aber nur, wenn

"es sich genau darum (handelt), Tabula rasa zu machen mit der kapitalistischen Tabula-rasa-Logik."

"Die Wert-Abspaltungsgesellschaft stellt an sich ein Tabula-rasa-Programm dar; sie ist an sich eine Negation, nämlich letzten Endes die brutale Negation aller sinnlichen und sozialen Welt. Es kann sich nur darum handeln, die Welt von dieser objektivierten diabolischen Verneinung zu befreien." (137 Tr)

Ja, zumal die "brutale Negation", wenn auch niemals absolut möglich, es noch wesentlicher auf die geistig-ethische Welt, auf das authentische Gewissen abgesehen hat. Aber ebenso "Tabula rasa zu machen" mit dem Subjekt an sich würde bedeuten, den Menschen als primär geistiges Wesen überhaupt zu verneinen - eine unsinnige Forderung, die uns lediglich zur "brutalen Negation" zurückführen würde. Tabula rasa im subjektiven Bereich sollte man nur mit dem spezifischen autistisch-individualistischen "Wertsubjekt" machen, das mit dem Kapitalismus korreliert. Doch diese Tabula rasa ist keine bloße Negation, sondern sie muß eingebunden werden in den ganzheitlich-schöpferischen Akt der sich seit Urzeiten immer wieder konkret realisierenden Persönlichkeit des Menschen.

Kurz ist sich der Kritik an seiner ›radikalen Subjektkritik‹ sehr wohl bewußt:

"So könnte man gegen die bisherige Argumentation mit einigem Recht geltend machen, dass sie so tut, als wäre sie nicht selbst noch die Argumentation eines Subjekts..." (139 Tr)

Was dann folgt ist der Versuch, diesen Einwand von seinem Standpunkt aus zu entkräften, was ihm im Hinblick auf die Aporie seiner Theorie und speziell auf seine generelle undifferenzierte Grundbehauptung:

"Je subjektiver, desto objektiver" (144 Tr),

nicht gelingen kann, auch wenn er sich bemüht, den Eindruck zu erwecken, daß er dies könnte, indem er vor allem auch behauptet, das Subjekt "negatorisch" gegen das Subjekt selbst wenden zu können:

"Das heißt, negativ-transformatorisch subjektiv zu werden...: Also Subjekt allein noch in dem Sinne, das Subjekt abzuschaffen". (144 Tr)

Richtig dagegen ist die kritische Distanzierung von denjenigen

"chinesischen Strategemen und Philsophemen, die etwa 'Handeln durch Nichthandeln' propagieren". (145 Tr)

Leider sieht Kurz hier jedoch nicht den Zusammenhang mit den Konsequenzen, die sich aus seiner eigenen Subjektkritik ergeben. Denn gerade die "Aufhebung des Subjekts" würde eine entleerte und handlungsunfähige "Individualität" hervorbringen.

Kurz plädiert dafür,

"die alte Autonomen-Parole 'Gefühl und Härte' zu mobilisieren: Gefühl für die Inhalte und Beziehungen, Härte gegen die Subjektform - und das eine bitte nicht mit dem anderen verwechseln!" (146 Tr)

Wenn jedoch mit der "Subjektform" das ganze Subjekt gemeint ist, wendet sich die Härte letztlich gegen den Menschen selbst. Demzufolge hat die "Härte" als Mittel radikaler Kritik ihre Grenzen und kann schnell über das Ziel hinausschießen, nämlich immer dann, wenn nicht mehr klar zu erkennen ist, ob die

"harte Negation" (146 Tr)

nur die "Subjektform" des Menschen oder den Menschen an sich hinwegfegen soll, der sich eben halt noch im Dunstkreis der "Fetisch-Konstitution" befindet.

 

Kurz bestimmt das Subjekt ausschließlich in der korrelativen Abhängigkeit vom Objekt: So gesehen begreift sich das Subjekt nur über die objektivierende Erkenntnisweise, d.h. über das Objekt der Erkenntnis: "Je subjektiver, desto objektiver". Kant wird bemüht, um zu zeigen, daß das Subjekt immer an eine starre Erkenntnisform gebunden ist (obwohl man damit dem ambivalenten Denker Kant nicht gerecht wird). In der heutigen Moderne ist es die Form der kapitalistischen "Fetisch-Konstitution". Existentiell-apriorische primär intuitiv-erkennende Inhalte des Subjekts, z.B. das Leiden, werden nicht ausdrücklich als solche in Betracht gezogen, sind für Kurz so nicht vorhanden. Wer nach der "Aufhebung des Subjekts" erkennt, bleibt unbegreiflich. Wenn man entgegen Kurz' Subjektkritik davon ausgeht, daß das Subjekt zunächst eine der Subjekt-Objekt-Spaltung vorausgehende personale Ganzheit geistig umfaßt, welches einen intuitiven sinngebenden Charakter trägt, das infolgedessen primär nicht wie ein "abstrakt-allgemeines Muster der Aussortierung" (115 Tr) funktioniert bzw. keinem objektivierenden, sondern einem schöpferischen Wesenskern entspringt, dann wird die Forderung nach der "Aufhebung des Subjekts" überflüssig, ja aberwitzig. Kurz' monistische Herangehensweise erlaubt keine wechselseitig zusammenhängende Zweigliedrigkeit der Erkenntnis im Sinne von primärer sinngebender existentieller und sekundärer objektivierender Erkenntnis. Das Zusammenwirken beider Erkenntnismomente ist ein ganzheitlicher geistig-realer Prozeß. In bezug auf den sinngebenden Erkenntnisakt wiederum muß unterschieden werden zwischen einem primär wahrhaften, persönlichkeitsbezogenen, auf die Fülle des Lebens orientierten und einem sekundär destruktiven, persönlichkeitszerstörenden bzw. -schwächenden, letztlich auf den Tod zusteuernden Erkenntnisakt. Die existentielle Erkenntnisweise beruht primär vor allem auf der Liebes- und Freiheitsintuition, dem originären Gewissen, dem Leiden und Mitleiden etc., aber sekundär beispielsweise eben auch auf Haß, dem Rachegefühl, in vielerlei Hinsicht auf Angst, Furcht, Eifersucht, Neid. Alle diese existentiellen Erkenntnisakte ereignen sich schöpferisch-impulsiv. Erst wenn der primäre existentielle Erkenntnisakt ursprünglich vollzogen worden ist, kann der sekundär-destruktive wirksam werden und sich gegen den primären wenden, aus diesem indirekt seine destruktiv gerichtete Bestimmung ableiten. Aus Liebe wird nicht Haß, sondern aus der Zurückweisung der Liebe bzw. der von Liebe getragenen Persönlichkeit in einer lieblosen, persönlichkeitsfeindlichen Welt kann Haß entstehen. Dabei erhalten sowohl die Liebe als auch der Haß den schöpferischen Impuls aus der Urpotenz - aus der unergründlichen Freiheit, aus dem sogenannten Nichts. Wäre umgekehrt jedoch der Haß primärer als die Liebe, so hätte kein Mensch, nicht einmal irgendein Tier mit personalem Wesenskern entstehen können. Die Liebe ist Leben, der Haß tendiert immer zum Tod, auch wenn der Haß dem Menschen zuweilen ›Lebendigkeit‹ suggeriert, die einzige, die er mitunter noch deutlich fühlt, weshalb selbst der Haß zur Sucht werden kann, die letztlich eine Sucht zum Tode ist. Zuerst jedoch war die Liebe im Menschen, in einem jeden personalen Wesen! Die Liebe ist die Urkraft des Lebenssinns.

Unser Verhältnis zur Welt im weitesten Sinne wird nicht nur durch einen primären sinngebenden existentiellen, sondern auch durch einen sekundären objektivierenden Erkenntnisakt hergestellt. Wir Menschen sind ganzheitlich sowohl geistig-seelische als auch physische Wesen. Insbesondere die Befriedigung unserer physischen und materiellen Bedürfnisse verlangt, daß wir über einen objektivierenden Erkenntnisakt Zugang zur Welt der Objekte finden, ihre Struktur und Gesetze verstehen, um die Dinge und materiellen Prozesse zielgerichtet beherrschen zu können. Das Wort ›beherrschen‹ hat hier eine positive Bedeutung, sofern das Grundmotiv unseres Handelns wahre Menschlichkeit ist. Niemals kommen wir ohne den sinngebenden Akt aus, der die unabdingbaren Grundmotive unseres Handelns überhaupt erzeugt und jeder Objektivierung, jedem objektivierenden Erkenntnisakt notwendig vorgelagert ist. Aber genausowenig können wir die Notwendigkeit eines objektivierenden Aktes für die Gestaltung unseres Lebens außer Acht lassen oder gar gänzlich aufheben. Der ursprünglich sinngebende Akt kann jedoch von einem niederen fetischorientierten Motiv zurückgedrängt und in perverser Weise mißbraucht werden, begleitet und angestachelt von destruktiven Wesenskräften des Menschen und der entsprechenden Einbindung seines schöpferischen Vermögens. Radikale Kritik muß meines Erachtens vor allem diesen letztgenannten Zusammenhang berücksichtigen.

Es ist die Liebe, durch die wir fortwährend über die Welt der Objektivation hinausgelangen. Die Liebe ist das grundlegendste Motiv unseres Lebens. Kein Ding der Welt, ob Erkenntnis-Ding oder materielles Ding, kann die Erfahrung der Liebe aufwiegen. Jede Objektivierung, jeder objektivierende Akt ist immer nur zweitrangig, abhängig von der existentiellen sinngebenden Wahrheit des Menschen, seiner wahrhaft umwertenden, umbildenden Schöpferkraft. Eine Lüge ist die einseitig objektverhaftete Erkenntnis-, Lebens- und Produktionsweise. Die Moderne ist dadurch gekennzeichnet, daß an die Stelle des existentiellen originären Gewissens das lebensfremde, kapitalistisch orientierte Fetisch-›Gewissen‹ tritt mit all seinen Forderungen nach Disziplin und Gehorsam, nach Anpassung an eine prozessuale und sich im starken Maße selbstregulierende Systemordnung hin zum Tode.

 

 

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